Dienstag, 3. Oktober 2017

Jana Weinert: Mensch wurde längst vom Gestalter zum Konsumenten gemacht.

Alice Schwarzer spricht in einem Emma-Artikel von einer "Machoisierung" der Gesellschaft, und deutet auch das Wahlergebnis vor diesem Hintergrund. Sie sieht eine "Gefühlsradikalisierung", die Ausdruck und Resultat tiefer Demütigung und langanhaltender Unterdrückung ist. Da gehe ich mit. Abgesehen davon, dass all diese -isierungswarnungen mit Vorsicht zu genießen sind, fällt mir zu "Machoisierung" der Gesellschaft eine ganze Menge ein. Und doch hieße die bloße Wahrnehmung zu thematisieren, auf der Symptomebene zu bleiben. Schwarzer spricht zwar von Unterdrückung und zieht die Parallele zu ehemaligen Kolonialgesellschaften - aber lässt sie mit gerade diesem Bezug nicht zuerst wieder an "die Anderen" denken, anstatt vor der eigenen Haustüre zu kehren? Bezogen auf den Habitus könnte der beobachtbar zunehmend rüde Umgangston auf eine "Gefühlsradikalisierung" deuten, die merklich härtere Umgangsweise miteinander im öffentlichen Raum, Verrohung sogar, eine deutliche Spur mehr Rücksichtslosigkeit und Egozentrismus - all das könnte für eine "Machoisierung" sprechen. Ein bissel schmunzelnd denke ich auch an den seltsamen Bart-Trend bei sehr vielen noch sehr jungen Männern.
Wenn Schwarzer von "Machoisierung" spricht, wäre auch davon zu sprechen, in welcher Rolle sich Frauen und Männer neuerdings sehen. Aber so weit gehe ich jetzt nicht in dieses Themenfeld hinein. Ich bleibe jetzt lieber bei dem Begriff "Gefühlsradikalisierung", Phänomene wie sie auch Zeitgenossen der beiden letzten Weltkriege berichteten.
Wodurch ist die "Gefühlsradikalisierung/Machoisierung" denn bedingt? Womit wird sie in Gang gebracht und gehalten? Worin werden wir hier unterdrückt? Uns geht es doch gut, oder?
Klar, es gilt das Teil-und-Herrsche-Prinzip. Da werden Hartz-Vier-Empfänger erzeugt, auch in dem mehr Teilzeit- und Zeitarbeitsstellen den Markt überschwemmen. Da wurden Lebensleistungen von Millionen Bundesbürgern abgewertet, eine ganze Wirtschaft wurde abgewickelt ...usw...wir wissen das.
Vor Jahren schon dieser Trend, in den Unterhaltungsfilmen im Kino den großen Helden wieder aufleben zu lassen, den Weltretter mit marzialischem Gebaren, in einem kriegerischen Kontext und meist sogar bei Weltuntergangsszenarien. Dazu die realen Kriege weltweit. Die dauernden Kriegsdrohungen. Nachrichten über schlimmste Gewaltverbrechen - und weniger Nachrichten darüber, wie diese Verbrechen geahndet wurden. Und die Hype um Terrorängste, die zu mehr Kontrolle der gesamten Menschheit führt, an Flughäfen, Grenzen, in Konzertsälen und im Datenverkehr.
All das bewirkt an sich schon eine existenzielle Grundverunsicherung.
Das wichtigste für mich aber: Mensch wurde längst vom Gestalter zum Konsumenten gemacht.
Das Denken kreist um Dinge, die man erwarb oder erwerben möchte, für die man wiederum Ausstattung braucht, die man kaufen muss. Das Denken dreht sich um Funktionen und Programme, die man downloaden kann und den Rattenschwanz an Möglichkeiten oder Widrigkeiten, die damit im Zusammenhang stehen. Geschrieben wird mit dem PC. Gezeichnet auch. Selbst Mobilität ist ein Konsumgut geworden, der Anspruch, weite Strecken zurücklegen zu können, um seine Arbeit zu machen, kann nur über Konsum erfüllt werden. Bahnhöfe sind nicht umsonst zu Shopping-Centern mutiert.

Die Gespräche im öffentlichen Raum drehen sich auch um das Konsumieren von Erlebnissen, touristischen Highlights, Großevents, Festivals - aber es bleibt dabei, alles das ist Konsum. Und natürlich ist auch der Konsum ein Akt der Entscheidungsfindung, und sogar eine kleine Möglichkeit, sich politisch zu verhalten - aber letztlich liegen die schöpferischen Fähigkeiten relativ brach, ist kein Prozess der Produktion mehr erfahrbar. Man nimmt sich, was man kriegen kann. Und selbst Erleben wird verkauft, in der Werbung wird alles zum Konsumgut, mit dem richtigen Laufschuh läuft sich der Marathon von selbst. Die Mühen der Ebenen, des Findens einer Idee und Lösung - sie sind ebenso schlecht zu verkaufen wie die Gedenkorte für die Verbrechen in unserer Geschichte in der Tourismuswerbung wenig Eingang finden. Leicht muss es schmecken. Alles muss gut sein.
Kaum jemand spricht davon, dass er selbst gestern Gitarre oder Klavier spielte und sich mühte, eine Melodie zu finden, nur mal so zur Freude, wenig wird von von den Fähigkeiten gesprochen an denen einer arbeitet, die er bei aller Mühe gern ausübt, mit Händen, Herz und Hirn.
Kommt das Gespräch aber doch mal darauf, dann erzeugt es einen Sog auch für umstehende Mitmenschen, als sei da ein Defizit, ein Hunger nach Austausch über Selbstgemachtes, Selbsterlebtes. Mir ist es beinahe eine Freude wenn sich Leute über ihren Garten oder Kochrezepte unterhalten, über Näharbeiten, Handwerk, über Seitenstiche beim Laufen und Rezepte dagegen, über harmlose Missgeschicke und Fehlversuche.
Das freie, greifbare Gestalten, auch das Mitgestalten von Gemeinschaftsräumen im Städtischen, von Kulturräumen, wie Theater oder andere Spielorte - alles das ist nicht unbedingt mainstream und usus.
Es ist ja auch immer wenig Zeit. Im digitalen Zeitalter hat man gefälligst schnell die Dinge zu erledigen. Man hat schnell einen Artikel zu schreiben - Recherche geht heute via Internet - schnell ein Layout zu gestalten, schnell einen Entwurf zu machen, ein Konzept zu schreiben - Vorlagen gibt es genug. Das stärkt nicht gerade das Gefühl, schöpferisch etwas entschieden zu haben, sondern hinterlässt eine latente Unzufriedenheit, die Dinge immer nur halb gut machen zu können, wie unter Besinnungslosigkeit, und mehr einem Trend nachzujagen und Außenerwartungen zu erfüllen, als die Arbeit mit dem eigenen Gespür und Gewissen abzugleichen. Letzteres wäre Gestalten.
Und je weniger mensch sich als gestaltend erlebt, desto mehr schwinden Entscheidungsfähigkeit und Selbstwertgefühl. Konsument sein macht abhängig, gestaltend sein gibt Freiraum.
Die Abhängigkeit des Konsumenten verstärkt wiederum die existenzielle Unsicherheit und das Gefühl, hilflos ausgeliefert zu sein. Wohnen geht nur via Konsum, Essen und Kleiden ebenfalls. Wie erstaunt jemand sein kann, der erstmalig einen Garten bewirtschaftet und Glück empfindet.
Wesentlich hinzu kommen die tatsächlich bedrohlichen Krisen, die mensch verursacht, die längst erkannt sind und dennoch nicht beendet werden. Gifte in der Nahrung, Wohnen, das man sich kaum noch leisten kann, Kriege und Kriegsandrohungen, Klimawandel, Atomwaffen, marode Atomkraftwerke, die Finanzblasen, die Spekulationswelt, ein digitaler Parallelmarkt - alles das wirkt nicht gerade vertrauensbildend auf das Menschenherz. Ganz zu schweigen von den Traumatisierungen, die wir alle, der eine mehr, der andere weniger, mit uns herumschleppen, aus den Elterngenerationen schon herübergebracht.
Die seit 25 Jahren etwa hartnäckig sich haltende Redewendung: "Alles ist/wird gut" hat etwas symptomatisches und deutet eher auf autosuggestive Beruhigungsmaßnahmen, wo im tiefen Innern längst die Alarmglocken schrillen. Aber mensch will und soll und muss überleben, auch in unwirtlichem System, das er selbst ist und selbst unterhält - und das er selbst ändern könnte!
Allmählich wäre die einzig richtge Anpassungsmaßnahme eine Grundveränderung, ein grundlegendes Neudenken und vor allem - gedacht wurde ja schon fast alles neu - ein Neugestalten. Und hier schließt sich der Kreis. Wer zum Konsumenten mutiert wurde, kann nur schwer den Gestaltungswillen in sich spüren. Aber es gibt ihn, den Gestaltungswillen, in jedem einzelnen Menschenherz.
Mal Pause machen vom Shoppengehen und bloßen Rezipieren von Inhalten. Mal träumen, wie man leben möchte, wie es einem wirklich gut gehen würde, was man verändern würde, wenn man könnte. Mal still werden. Mal selbst das Fahrrad neu erfinden von mir aus...und dann die Gesellschaft.

Jana Weinert