Dienstag, 15. Dezember 2015

menschenleerer Strand

Es ist keine Menschenseele zu sehen am Strand an diesem Sonntagnachmittag. Dezembernachmittag. Dezembersonntag. Drehe die Uhr ein halbes Jahr zurück, erinnere dich, die Hitze, die nach Kühlung lechzenden Menschen...
Der Senftenberger See - immer wieder zieht es mich an seine Ufer, immer wieder streiche ich mit meinem Blick über sein Gesicht, dieses so wandelbare Gesicht, das mehr verbirgt als enthüllt. Manchmal denke ich auch, was hat man dir nicht alles angetan in den vergangenen Jahren, sie wissen es zu rechtfertigen mit Euro und Cent. Prognose, Rechnung, Bilanz, Investition, Rentabilität ~ wieder einmal kommen Goldgräber in die Lausitz und hoffen auf den großen Fund, den großen Coup. Was müssen wir alles verschweigen, kaschieren, zurechtrücken, aufblasen oder kleinhalten damit am Ende eine schöne neue Welt gezimmert ist und einige Wenige ihren Platz eingenommen haben. Die große Tafel ist gedeckt und sie kommen, kommen mit großen Löffeln und scharfen Messern. Vielleicht ist am Ende vieles nur Kulisse, Pappmache, beim nächsten Regen weicht alles in Matsch auf. Ein See ist ein See, ein ehemaliger Tagebau gefüllt mit Wasser. Ein See. Was hat man denn kalkuliert vor fünf/ vier Jahrzehnten? Eine ergebnisoffene Entwicklung. Ich denke an die hunderte Menschen vor einem halben Jahr, hier auf der Wiese und bin dankbar, dass mich eine Krähe aus dieser Schleife heraus ruft. Im frisch mit Sand aufgefüllten Strandbereich entdecke ich einen Kranz aus immergrünen Zweigen, rechts und links eine welke Rose, in der Mitte ein erloschenes Grablicht. Vor knapp einem Monat stand die Meldung in der Lokalpresse, dass eine vierundsiebzigjährige Frau "selbstbestimmt aus dem Leben geschieden ist". Mitten im November. In den See gehen und nicht wiederkommen, sondern von der Feuerwehr geborgen werden. Selbst bestimmen. Gehen? Bleiben? Immer wieder die gleichen Fragen, die an die Menschen der Lausitz besonders eindringlich gestellt werden. Diese Region war immer starken Wandlungen unterworfen. Um das Erbe zankt sich die nachfolgende Generation und wird Gutes wollen, manches vollbringen und auch Fehler machen, Rechtfertigungen konstruieren und jeden Abend den großen Löffel polieren.
Ich wende mich ab, trage den Monolog noch ein Stück weiter bis zu dem Weg, auf dem die Jogger entlang laufen, bis zu dem Parkplatz, auf dem die Gaststättenbesucher ihr Auto abstellen, bis zu der Straße, auf dem die Menschenseelen die Hundeseelen Gassi führen. Am Abend werde ich mit der Fingerspitze über die perlmuttene Innenseite des Muschelfragments streichen. Vielleicht ein Stück Zahn aus dem Lächeln des Sees.

entdeckt und fotografiert am 13. Dezember 2015 ~ JA