Foto: Renate Hensel |
ER
oder
Unvermutete Entdeckung
Es war Zufall, als ich ihn entdeckte inmitten des Kiefermischwaldes, im Frühling, noch vor der Zeit der Apfelblüte. Ich befand mich auf meiner täglichen Radtour in Richtung Rostiger Nagel, der eisernen Landmarke am Sedlitzer See. Doch bis dahin sollte ich nicht kommen, denn ein seltsames Gebilde sprang links des Weges in mein Gesichtsfeld. Nur ein Augenblick des Kopfdrehens war es, so, wie man es gelegentlich macht, starrt man nicht stumpfsinnig geradeaus. Ich hatte nichts im Sinn. Doch in dem Moment, als ich IHN erblickte, war ich hellwach.
Unfassbar, dachte ich, und in meinem Kopf spulten sich schlimme Geschichten ab. Die Nachrichten waren voll davon, aber die todbringenden Geschehnisse waren weit weg, in Italien und Spanien, nicht hier. Der Verursacher der schlimmen Nachrichten war nicht zu fassen. Man sah ihn nicht, aber er war fast überall.
Die Medien widmeten ihm große Aufmerksamkeit, von Tag zu Tag mehr. Die Zeitungen waren voll davon, ja, sogar einen Steckbrief von IHM druckte man überall ab. In meinem Kopf hatte sich sein Konterfei fest verankert, nicht wegen der Boshaftigkeit, sondern wegen seiner Schönheit. Ich dachte an Hiroshima. So viel Leid durch den Abwurf der Atombombe! Und doch so viel Schönheit im Anblick des Todespilzes…Es ist schwer, beides in einem Atemzug zu nennen, ohne die Gefühle auszusparen. Aber sind beim Anblick des weißen Pilzes mit seinen Wolkenwellen nicht auch Gefühle im Spiel, solche, die das Böse ausklammern können? Die sogar Genuss vermögen?
Als ich IHN im Kiefernwald sah, hatte der Genuss die Überhand, denn ich wusste, ER ist nur ein Schein, ein Synonym für das, was Monate später ganz Europa in Atem hielt. ER ähnelte dieser Gefahr, jedenfalls sah ich es so.
Tatsächlich glich IHM die runde Form mit den Auswüchsen nur in verkümmerter Form. ER thronte auf einem geraden Stamm und verzweigte sich vielästig, so, als würde ER einen Tanz aufführen wollen. Viele Astarme streckten sich nach allen Seiten und in den Himmel. Ja, so stellte ich mir seine Ausbreitung vor, nach allen Richtungen.
Bei näherer Betrachtung erschien mir der Baum wie eine Frau, denn ein leichter Auswuchs an der richtigen Stelle signalisiere mir Busen, eine Tänzerin also. Hat sie ein Gesicht? Natürlich, wer sucht, der findet. O Picasso, ich weiß, was du sagtest: Ich suche nicht, ich finde. Das hast du mit Goethe gemeinsam, wenn er dichtet: Ich ging im Walde so für mich hin, und nichts zu suchen, das war mein Sinn…Aber so erging es mir ja am Anfang. Und weil das Glücksgefühl beim unvermuteten Entdecken so einzigartig ist, war ich in diesem Moment voller Glück. Ich nahm meine Kamera und fotografierte aus allen möglichen Perspektiven, stieg über das umherliegende Geäst und versank in Erdvertiefungen, die vom Laub und Gras des Vorjahres unschuldig getarnt erschienen. Aber ich hatte IHN gebannt, als Kunstwerk der Natur, wenn auch krank, denn gesund war sein Kopf nicht. Und meiner?
Vielleicht bin ich die einzige, die so verzückt diesen Baum betrachten kann, weil in meinem Kopf die Formen verrückt spielen. Aber das ist ja oft so bei den Künstlern, sie sind ein bisschen anders. Sie sehen, was andere nicht sehen. Sie entdecken die Welt. Und das ist gut so, denke ich…
Foto: Renate Hensel |
Viele
Male im gesamten Jahr 2020 besuchte ich auf meiner Radtour meinen
Baum, sah, wie er sich veränderte und erkannte, ER war eine Eiche
und nicht die Brutstätte des pinkfarbenen Balles mit den
saugnapfartigen Auswüchsen, des unberechenbaren bösen Coronavirus.
Schon während meiner ersten Begegnung hatte ich IHN getauft.
Fortwährend nannte ich ihn Coronabaum. Jetzt ist es November, noch
zeigen sich ein paar Herbstblätter überall. Ich warte auf den
Winter und auf Schnee. Er mag ihn überdauern, noch lange leben, denn
ER ist wahrlich ungefährlich.
Renate Hensel, Nov. 2020