Lausitzer Lyrikfestival ~ Tage der LITERATUR
Am kommenden Samstag in der Gartenstadt Marga zu Gast:
Renate Hensel
Lausitzer Rundschau, 9. Februar 2017
Senftenberg Renate Hensel aus
Senftenberg erforscht Schicksale von Menschen, die ihre Heimat
verlassen mussten. Als Fünfjährige war sie eine von ihnen.
Die
in Schwarzheide geborene Renate Hensel war als Fünfjährige selbst
auf der Flucht. Das Flüchtlingsthema begleitet sie ihr ganzes Leben.
Sie erforscht die Geschichten von Menschen aus der Region, die ihre
Heimat verlassen mussten und veröffentlicht sie in Bücher.
Das Schicksal von Wolfgang Lehmann
lässt Renate Hensel keine Ruhe. Der Groß räschener hatte in der
RUNDSCHAU vom Montag seinen Weg in sowjetische Gefangenschaft vor 70
Jahren geschildert. Mit solchen Biografien kennt sich die
Senftenberger Autorin Renate Hensel bestens aus. Das Thema Flucht
beschäftigt sie ihr ganzes Leben. Es beginnt als Fünfjährige. Ende
März 1945 wird bei den Angriffen auf das ehemalige Synthesewerk auch
das Haus ihrer Familie zerbombt. Der Räumungsbefehl für
Schwarzheide wird am 21. April um sechs Uhr morgens erlassen,
erinnert sich die heute 77-Jährige. Statt Pferde spannen sich die
Eltern vor den Bauernwagen und ziehen mit Hab und Gut, der kleinen
Renate und ihrer zweijährigen Schwester durch die Landschaft. Viel
übrig geblieben ist nicht von den Erinnerungen.
Bomben, Hunger, Angst
Einige Details haben sich aber "tief
eingeprägt": Bomben, Hunger, Vergewaltigungen, Diebstahl –
und Angst. Auf ihrem Weg in Richtung Chemnitz kommt sie mit ihrer
Familie zufällig bei Bekannten unter. Sie schlafen in Scheunen und
Häusern am Wegesrand. Nach zwei Wochen werden sie wie so viele
andere Flüchtende eingekesselt. "Westlich die Amerikaner,
östlich die Russen. Deshalb sind wir umgekehrt und zurückgegangen",
erklärt sie.
"Meine Erlebnisse sind jedoch
unscheinbar gegen die Geschichten, die ich von meinen
Interviewpartnern hörte, welche jahrelang durch die Ereignisse des
Zweiten Weltkrieges vertrieben wurden und auf der Flucht waren",
sagt die ehemalige Deutsch- und Kunstlehrerin, die sich im Verein
"Unsere Welt, eine Welt" engagiert.
Zerrissene Wege
In ihrem Buch "Zerrissene Wege"
hält sie die Leidenserfahrung von Vertriebenen aus der Region fest –
oft auch von Russlanddeutschen. "Wer einmal ihre Lebenswege
kennt, wird diese Menschen mit anderen Augen und großem Respekt
sehen", sagt sie. Da ist zum Beispiel die Geschichte von Jakob
Kasdorf (geb. 1931), dem Platt sprechenden Wolgadeutschen, der nach
Kasachstan vertrieben wurde, dessen Mutter und fast alle Verwandten
an Hunger starben. Im Interview berichtet er von seinem Leben. Im
Ural habe er sich als "Russenjunge Jascha" ausgegeben, um
nicht in den Verdacht eines deutschen Spions zu kommen. Im Autowerk
in Mias baute er eine tiefe, väterliche Freundschaft zu einem
deutschen Gefangenen auf. Nach dem Krieg, nun als Russlanddeutscher
in Senftenberg, habe er ihn gesucht und wiedergefunden.
Parallelen zum Schicksal des
Großräschener Wolfgang Lehmann erkennt Renate Hensel auch zu den
Verhaftungen nach 1945. "Bis zur Gründung der Republik
verschwanden Menschen aus konstruierten Gründen", erläutert
sie. Ein Zeitzeuge, mit dem sich die Autorin während ihrer
Forschungsarbeit trifft, ist Günter B. (geb. 1931). Er sei 1947 als
Jugendlicher aus Senftenberg wegen des Verdachtes, den "Wehrwölfen"
angehört zu haben, von den Besatzern verhaftet und für drei Jahre
ins KZ Sachsenhausen gebracht worden. Renate Hensel erinnert sich
auch an die traurige Geschichte der Künstlerin Margo Wendt (1907 –
1978), die als Dolmetscherin im Senftenberger Krankenhaus, den Russen
plötzlich verdächtig erschien.
Trauriges Schicksal
Ihrem Mann, dem Maler Günther Wendt
und den vier Kindern entrissen, wurde sie 1946 von einem sowjetischen
Militärtribunal zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt und nach
Sibirien in den Gulag gebracht. Erst 1956 kam sie frei, weil sie als
gebürtige Russin mit einem Deutschen verheiratet war. "Viele
Betroffene haben Tagebuch geführt oder ihre Lebenswege
aufgeschrieben. Sie zu lesen, ist zutiefst berührend, erschütternd,
aber auch voller Achtung dafür, wie stark Menschen sein können",
sagt Renate Hensel.