Es ist stockdunkel in der Kirche. Zwei
mal zwei Leute nehmen die Besucher in Empfang, reichen ihnen einen
Liedtextzettel und eine Kerze samt zugehörigem Holztellerchen, sie
sind mit Taschenlampen ausgestattet und sprechen in gedämpfter
Lautstärke. Es ist dunkel und still. Nur wenige Gespräche sind zu
hören und auch die meist im Flüsterton. Ich versuche mich an die
Lichtverhältnisse anzupassen, taste mich zu einer fast unbesetzten
Stuhlreihe und bin froh, dass ich nicht irgendwo gegengestoßen und
damit einen üblen Lärm verursacht habe. Es ist ist kurz vor 5 Uhr
morgens, die Sonne geht am 20. April 2025 um 5 Uhr 59 auf – also in
etwa einer Stunde. Und dann heben die Gesangsstimmen an: Bleibet
hier! Wachet mit mir! Wachet und betet! Wachet und betet! Die Sänger
sind im Kirchenraum nicht auszumachen, die Stimmen könnten aus dem
Altarraum kommen oder von der Orgelempore, aus den Seitenschiffen
oder die SägerInnen stehen hinter den Stuhlreihen. Der ganze Raum
ist ein einziger Klang. Ich kenne die Zeilen Dietrich Bonhoeffers,
ich kenne die Melodie von Jacques Berthier, ich kenne die
Tanzschritte des Meditativen Tanzes dazu, wir sangen und tanzten es
oft bei den Zusammenkünften in der nun zu Ende gehenden 7wöchigen
Fastenzeit. Da durchdringt es mich, dieses Gemeinschafts-, dieses
Zusammangehörigkeitsgefühl, das bis zu den Tänzerinnen 50 km
entfernt reicht, bis zu meiner Familie – 100 km entfernt von dieser
Stadt, von dieser Kirche, zu Freunden und Bekannten, zu den mir
fremden Menschen in diesem dunklen, gesanggefüllten Raum. Die Worte
verklingen, hallen tief in mir nach. Da setzt die Pfarrerin ein: Es
ist dunkel und still... Nach und nach wird es in der folgenden
anderthalb Stunde heller, aus dem Schwarz wird Dunkelgrau und dann
eine blaue Hose, eine grüne Jacke. Die Glocken läuten zum
Sonnenaufgang, das Licht wird verteilt, ich entzünde meinen Docht an
der Kerzenflamme eines Sängers, der neben mir stehen bleibt, eine
Frau meint: Achten Sie auf Ihre Jacken wegen des tropfenden Wachses.
Ich hatte ein Papiertaschentuch mitgenommen und schlug es um das
Omega im unteren Drittel der Stabkerze, der leichte Luftzug bewegt
die Flamme, bald ist auch das Taschentuch durchtränkt. Die Orgel
setzt mit neu gewonnener Lebensfreude und Zuversicht ein. Die
Liedtexte auf dem Zettel kenne ich fast auswendig – aber eben nur
fast. Nach dem Abschlusssegen läuten noch einmal die Glocken, die
Menschen stehen auf, kommen ins Gespräch, verlassen die Kirche...
Ich ruhe noch immer in der Bitte „Bleibet hier!“ Die 7 Wochen
Verzicht sind nicht einfach abzuschütteln – es ist nicht nur der
physische Verzicht, auch das seelische Fasten, der Verzicht auf
unproduktive Schwärmereien, auf zerstörerischen Nachrichtenkonsum
(auch aus Tratsch und Klatsch), auf blockierende Empfindungen... ich
kann und will jetzt nicht sofort einen doppelten Espresso trinken
oder ein Glas Sekt zum Osterfrühstück, ich will noch so lange wie
möglich diese geistige Klarheit bewahren, die Strukturen, die schon
lange nicht mehr nur Ersatz für etwas sind sondern sich gut und
richtig anfühlen. Es ist jedes Mal ein berührender Abschied, wenn
ich das letzte Blatt des Anderen Advents oder des Fastenwegweisers
lese. Bleibet hier! Wachet mit mir! Wachet und betet!
Stunden
später sitze ich im surreal schönen Frühlingssonnenschein auf der
Gartenbank unter dem blühenden Kirschbaum, neben den roten Tulpen,
mit einer Tasse frisch gemahlenem und mit Osterwasser gebrühtem
Kaffee in der Hand.....
Yana Arlt
Der
Mensch lebt notwendig in einer Begegnung mit anderen Menschen, und
ihm wird mit dieser Begegnung in einer je verschiedenen Form eine
Verantwortung für den anderen Menschen auferlegt.
Es gibt
erfülltes Leben trotz vieler unerfüllter Wünsche.
Geheimnislos
leben heißt, die entscheidenden Vorgänge des Lebens garnicht sehen
oder sogar ableugnen.
Dietrich
Bonhoeffer
Textquelle: https://www.dietrich-bonhoeffer.net/zitate/