Mittwoch, 23. April 2025

Inspirieren lassen ~ Es ist dunkel und still


Es ist stockdunkel in der Kirche. Zwei mal zwei Leute nehmen die Besucher in Empfang, reichen ihnen einen Liedtextzettel und eine Kerze samt zugehörigem Holztellerchen, sie sind mit Taschenlampen ausgestattet und sprechen in gedämpfter Lautstärke. Es ist dunkel und still. Nur wenige Gespräche sind zu hören und auch die meist im Flüsterton. Ich versuche mich an die Lichtverhältnisse anzupassen, taste mich zu einer fast unbesetzten Stuhlreihe und bin froh, dass ich nicht irgendwo gegengestoßen und damit einen üblen Lärm verursacht habe. Es ist ist kurz vor 5 Uhr morgens, die Sonne geht am 20. April 2025 um 5 Uhr 59 auf – also in etwa einer Stunde. Und dann heben die Gesangsstimmen an: Bleibet hier! Wachet mit mir! Wachet und betet! Wachet und betet! Die Sänger sind im Kirchenraum nicht auszumachen, die Stimmen könnten aus dem Altarraum kommen oder von der Orgelempore, aus den Seitenschiffen oder die SägerInnen stehen hinter den Stuhlreihen. Der ganze Raum ist ein einziger Klang. Ich kenne die Zeilen Dietrich Bonhoeffers, ich kenne die Melodie von Jacques Berthier, ich kenne die Tanzschritte des Meditativen Tanzes dazu, wir sangen und tanzten es oft bei den Zusammenkünften in der nun zu Ende gehenden 7wöchigen Fastenzeit. Da durchdringt es mich, dieses Gemeinschafts-, dieses Zusammangehörigkeitsgefühl, das bis zu den Tänzerinnen 50 km entfernt reicht, bis zu meiner Familie – 100 km entfernt von dieser Stadt, von dieser Kirche, zu Freunden und Bekannten, zu den mir fremden Menschen in diesem dunklen, gesanggefüllten Raum. Die Worte verklingen, hallen tief in mir nach. Da setzt die Pfarrerin ein: Es ist dunkel und still... Nach und nach wird es in der folgenden anderthalb Stunde heller, aus dem Schwarz wird Dunkelgrau und dann eine blaue Hose, eine grüne Jacke. Die Glocken läuten zum Sonnenaufgang, das Licht wird verteilt, ich entzünde meinen Docht an der Kerzenflamme eines Sängers, der neben mir stehen bleibt, eine Frau meint: Achten Sie auf Ihre Jacken wegen des tropfenden Wachses. Ich hatte ein Papiertaschentuch mitgenommen und schlug es um das Omega im unteren Drittel der Stabkerze, der leichte Luftzug bewegt die Flamme, bald ist auch das Taschentuch durchtränkt. Die Orgel setzt mit neu gewonnener Lebensfreude und Zuversicht ein. Die Liedtexte auf dem Zettel kenne ich fast auswendig – aber eben nur fast. Nach dem Abschlusssegen läuten noch einmal die Glocken, die Menschen stehen auf, kommen ins Gespräch, verlassen die Kirche... Ich ruhe noch immer in der Bitte „Bleibet hier!“ Die 7 Wochen Verzicht sind nicht einfach abzuschütteln – es ist nicht nur der physische Verzicht, auch das seelische Fasten, der Verzicht auf unproduktive Schwärmereien, auf zerstörerischen Nachrichtenkonsum (auch aus Tratsch und Klatsch), auf blockierende Empfindungen... ich kann und will jetzt nicht sofort einen doppelten Espresso trinken oder ein Glas Sekt zum Osterfrühstück, ich will noch so lange wie möglich diese geistige Klarheit bewahren, die Strukturen, die schon lange nicht mehr nur Ersatz für etwas sind sondern sich gut und richtig anfühlen. Es ist jedes Mal ein berührender Abschied, wenn ich das letzte Blatt des Anderen Advents oder des Fastenwegweisers lese. Bleibet hier! Wachet mit mir! Wachet und betet!
Stunden später sitze ich im surreal schönen Frühlingssonnenschein auf der Gartenbank unter dem blühenden Kirschbaum, neben den roten Tulpen, mit einer Tasse frisch gemahlenem und mit Osterwasser gebrühtem Kaffee in der Hand.....

Yana Arlt


Der Mensch lebt notwendig in einer Begegnung mit anderen Menschen, und ihm wird mit dieser Begegnung in einer je verschiedenen Form eine Verantwortung für den anderen Menschen auferlegt.

Es gibt erfülltes Leben trotz vieler unerfüllter Wünsche.

Geheimnislos leben heißt, die entscheidenden Vorgänge des Lebens garnicht sehen oder sogar ableugnen.


Dietrich Bonhoeffer



Textquelle: https://www.dietrich-bonhoeffer.net/zitate/