Montag, 28. August 2023

Inspirieren lassen ~ alle guten Taten

Kunst verändert nicht die Welt. Kunst kann uns den Blick in die Welt schärfen und uns die Dinge darin auffächern. Dabei spielt es keine Rolle, ob es ein Gemälde von Frida Kahlo ist oder ein Musikstück von Claude Debussy oder ein Gedicht von Rainer Malkowski. Ich würde meinen, dass die KünstlerInnen nicht unbedingt diese Wirkung beabsichtigen, möglicherweise geht es ihnen in erster Linie darum, durch ihr Schaffen für sich selbst etwas besser verstehen zu können.
Kunst und Leid scheinen zusammenzugehören. Zumindest wird das auch oft behauptet. Könnte ein ausgeglichener, zufriedener, glücklicher Mensch „Das Weltgericht“ (Hieronymus Bosch) malen, „Los Caprichos“ (Francisco Goya) zeichnen oder die „Schicksalssinfonie“ (Ludwig van Beethoven) komponieren oder „Die Wellen“ (Virginia Woolf) schreiben? Hätte Frida Kahlo ohne den Unfall, bei dem ihr Körper lebenslang geschädigt wurde, sie zu wochenlanger Bettruhe zwang, begonnen zu malen? Wenn Claude Debussy bei den Klavierwettbewerben nicht gescheitert wäre, so dass für ihn die Laufbahn eines Klaviervirtuosen verwehrt blieb, hätte er überhaupt begonnen, selbst zu komponieren? Hätte der Werbemanager Rainer Malkowski mit seinem ersten Gedichtband „Was für ein Morgen“ nicht ein erfolgreiches Debut veröffentlicht, wäre er in den Fahrwassern der Werbung weitergetrieben und welchen Einfluss hatte seine langjährige schwere Krankheit, die für ihn zunehmende Sehschwäche/ Blindheit bedeutete, auf seine Lyrik? Von Rainer Malkowski stammen die Zeilen: „Unsere Lieblingsgedichte sind wahrscheinlich jene, bei denen wir am deutlichsten fühlen, daß sie uns sehend machen.“ Da haben wir es wieder, das Verstehenwollen. Gedichte schreiben, um sich der Welt bewusster zu werden, Hintergründiges und tief Verborgenes aufspüren und sichtbar machen. Verstehen wir überhaupt, was für großartige Geschenke die Werke von KünstlerInnen sind? Können wir die Wirkung ihrer Bilder, Filme, Lieder, Gedichte, Romane, Choreographien etc. auf uns ermessen? Kunstwerke betrachten, hören, lesen, ist Kommunikation. Ein Austausch über Generationen, Grenzen und Gedankenuniversen hinweg. Dinge wahrnehmen, weil sie mir ein anderer zeigt. Durch seinen Blick darauf, erkennen, verstehen, in Frage stellen. Auch die eigene Meinung, die eigenen Entscheidungen, das eigene Verhalten. Marina Abramovic konfrontiert in ihren Performances, z.B. „Rhythm O“ die Menschen mit ihren Ängsten, Vorurteilen, Unzulänglichkeiten, Bedürfnissen/ Begierden. Kunst verändert nicht die Welt.
Wir erkennen nur ein Stückchen, das wir allein nicht entdeckt oder erreicht hätten.

Yana Arlt



Rainer Malkowski, gest. 1. September 2003

Moralische Physik

Ein Sommertag, lange her.
Zwischen den Pappeln steif und still
geht ein Junge mit einer Gießkanne
über den Friedhof.

Große Ferien.
Die Spielkameraden verreist
oder untergetaucht im schrillen Lärm
des Freibads.

Niemand sieht ihn,
während er mürrisch
die Kanne auf dem Grabhügel leert.
Und was nützt es dem Toten,
der längst
im Himmel ist?

Sekunden, noch ungetröstet,
vor der kindlichen Entwicklung
einer moralischen Physik.

Etwa so:
alle guten Taten
werden aufbewahrt von der Luft,
strömen schließlich
wenn die Luft reich genug ist,
bessernd
in die Menschen zurück.

Ein Sommertag, lange her.
Aber schon damals vor allem
zur eigenen Erleichterung
fruchtbar
die Berührung durch den Geist
der Utopie.

aus: „Rainer Malkowski / Die Gedichte“ Vierte Auflage 2021 Wallstein Verlag


In den kommenden Tagen stellen wir hier auf dem Blog die DichterInnen vor, die beim 11. Lausitzer Lyrikfestival vom 1. bis 3. September 2023 in der Gartenstadt Marga zu erleben sind.
Einer meiner neuesten Texte ist bereits seit heute auf dem NLZ-Blog zu lesen ~