Da steht er. Da vorn auf der Bühne. 14
Sitzreihen und einen Orchestergraben entfernt. Sidi Larbi Cherkahoui.
Für mich einer der interessantesten, innovativsten Choreographen für
außergewöhnliche Ballettabende. Zugegeben, ich hatte keine Lust,
mich bei 33°C Außentemperatur in meinen „Oldtimer“ zu setzen
und nach Dresden zu fahren, auch nicht als man mir sagte: die
Semperoper ist klimatisiert. Doch dann las ich im Programm, welches
Stück auf dem Programm steht. „Noetic“. Choreographie Sidi Larbi
Cherkaoui. Schon lange wollte ich eine seiner Choreographien live auf
einer Bühne sehen – als 2008 „Sutra“ in Berlin aufgeführt
wurde, war das finanziell für mich in unendlicher Ferne, ich habe
das Stück dann mit glänzenden Augen im Fernsehen erlebt. Ein
kleiner Fernseher mit einer Bildschirmdiagonale, die einem Laptop
gleicht. Aber, ich habe es gesehen! Viele wundervolle Choreographien
kreierte der belgische Tänzer mit flämisch-marokkanischen Wurzeln
seit seinem Debüt 1999.
Unter staatsoper
kann man lesen: „1976 in Antwerpen geboren
und am Tanz-Ausbildungszentrum P.A.R.T.S. in Brüssel ausgebildet,
war Sidi Larbi Cherkaoui Teil der Uraufführungsbesetzung von Alain
Platels Iets op Bach
(1998) und gab 1999 in Ostende sein choreographisches Debüt mit dem
Stück Anonymous Society,
inszeniert von Andrew Wale. Für die Ballets C de la B schuf er
daraufhin die Stücke Rien de Rien
(2000), Foi
(2003) und Tempus Fugit
(2004). 2002 schuf er mit Damien Jalet, Luc Dunberry und Juan Kruz
Diaz de Garaio Esnaola das Stück d'avant,
das von Sasha Waltz and guests produziert wurde. 2005 folgte in
Ko-Kreation mit Akram Khan das Duo zero
degrees.
2008 brachte Cherkaoui
das Stück Sutra
heraus, bei dem er zu Musik von Szymon Brzóska und in einem Raum von
Antony Gormley zusammen mit achtzehn Mönchen aus dem Shaolin-Kloster
am Berg Songshan in China tanzte. 2010 gründete er seine eigene
Kompanie Eastman, die im Kulturzentrum deSingel in Antwerpen ansässig
ist. [...]“
Was treibt ihn um? Was treibt ihn an?
Verschiedene Kulturen – auch weil seine Identität in zwei Kulturen
wurzelt. Verschiedene Religionen – auch hier ist er von zweierlei
Religionen geprägt und stets neugierig auf andere
Glaubensrichtungen. Verschiedene Kunststile – Kompositionen von
Maurice Ravel und Igor Strawinsky finden ebenso Beachtung wie Songs
von Beyoncé,
die Bewegungsabläufe beim Breakdance oder das Leben des
Manga-Zeichners Osamu Tezuka. Mir kommt der Begriff „kosmopolitisch“
in den Sinn und man könnte meinen, dass Künstler schon immer
unterschiedlichste Einflüsse wahrnahmen und in ihre Produktionen
aufnahmen, sich schon vor Jahrhunderten von anderen Kulturen,
Religionen und Kunststilen inspirieren ließen. Man denke an die
Maler, Bildhauer und Architekten des 18. Jahrhunderts, die sich von
der Kunst des antiken Griechenlands beeinflussen ließen; der
Impressionismus und Post-Impressionismus nahm Einflüsse der
japanischen Kunst auf. Ist es heute schwerer, in einem Kunstwerk
etwas Neues zu erschaffen, weil irgendwie alles schon einmal in
ähnlicher Form da war? Oder ist es sogar einfacher, weil man aus
einem schier endlosen Fundus schöpfen kann – mit ein paar Klicks.
Was macht das Besondere, das Einmalige an einem neuen
Kunstwerk aus? Ein neues Gedicht. Ein neues Gemälde. Eine neue
Plastik. Eine neue Choreographie. Eine neue Fotographie. Ein neues
Musikstück. Gibt es das, etwas vollkommen Neues? Naturgesetze können
nicht ausgehebelt werden aber wir können unsere Wahrnehmung
hinterfragen und unser Verständnis, unsere Deutung. Was für mich
etwas Berührendes hat, ist für jemand anderen etwas Triviales.
Worüber ich staune, langweilt jemand anderen. Wo ich von der
Atmosphäre begeistert bin, analysiert ein anderer technische
Details. Wenn ich eine Szene entspannt auf mich wirken lasse, kaut
der Sitznachbar in der Zuschauerreihe hyperstimuliert Kaugummi (und
bemerkt die heftigen Kieferbewegungen selbst nicht einmal). In einem
vollbesetzten Theater, sagen wir 1.300 Menschen in der Semperoper
Dresden muss man sich in Toleranz und Zurückhaltung üben. 1.300
Personen schauen in die gleiche Richtung, auf die Bühne und sehen
doch sehr verschiedene Dinge. Erleben das Schauspiel, das Konzert,
das Ballett unterschiedlich. Ganz zu schweigen von dem Komponisten,
den Musikern, den Schauspielern, dem Dramaturgen, dem Kostümbildner,
den Tänzern, der Dirigentin, dem Choreographen... auf und hinter der
Bühne. Ich habe an diesem Abend hunderte Emotionen, Gedanken, Fragen
und dann doch keine einzige mehr, als ich zu hause aus dem Auto
aussteige und Glühwürmchen über dem Rasen hinter dem Haus leuchten
sehe.
Yana Arlt
Der
Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem beinahe richtigen ist
der gleiche, wie zwischen einem Blitz und einem Glühwürmchen.
Mark
Twain
Foto: Lydia Arlt Kirste ~ Blick vom Balkon der Semperoper auf den Semperoperplatz