Montag, 30. Juni 2025

Inspirieren lassen ~ intuitive Erkenntnis

Da steht er. Da vorn auf der Bühne. 14 Sitzreihen und einen Orchestergraben entfernt. Sidi Larbi Cherkahoui. Für mich einer der interessantesten, innovativsten Choreographen für außergewöhnliche Ballettabende. Zugegeben, ich hatte keine Lust, mich bei 33°C Außentemperatur in meinen „Oldtimer“ zu setzen und nach Dresden zu fahren, auch nicht als man mir sagte: die Semperoper ist klimatisiert. Doch dann las ich im Programm, welches Stück auf dem Programm steht. „Noetic“. Choreographie Sidi Larbi Cherkaoui. Schon lange wollte ich eine seiner Choreographien live auf einer Bühne sehen – als 2008 „Sutra“ in Berlin aufgeführt wurde, war das finanziell für mich in unendlicher Ferne, ich habe das Stück dann mit glänzenden Augen im Fernsehen erlebt. Ein kleiner Fernseher mit einer Bildschirmdiagonale, die einem Laptop gleicht. Aber, ich habe es gesehen! Viele wundervolle Choreographien kreierte der belgische Tänzer mit flämisch-marokkanischen Wurzeln seit seinem Debüt 1999.
Unter staatsoper kann man lesen: „1976 in Antwerpen geboren und am Tanz-Ausbildungszentrum P.A.R.T.S. in Brüssel ausgebildet, war Sidi Larbi Cherkaoui Teil der Uraufführungsbesetzung von Alain Platels Iets op Bach (1998) und gab 1999 in Ostende sein choreographisches Debüt mit dem Stück Anonymous Society, inszeniert von Andrew Wale. Für die Ballets C de la B schuf er daraufhin die Stücke Rien de Rien (2000), Foi (2003) und Tempus Fugit (2004). 2002 schuf er mit Damien Jalet, Luc Dunberry und Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola das Stück d'avant, das von Sasha Waltz and guests produziert wurde. 2005 folgte in Ko-Kreation mit Akram Khan das Duo zero degrees.
2008 brachte Cherkaoui das Stück
Sutra heraus, bei dem er zu Musik von Szymon Brzóska und in einem Raum von Antony Gormley zusammen mit achtzehn Mönchen aus dem Shaolin-Kloster am Berg Songshan in China tanzte. 2010 gründete er seine eigene Kompanie Eastman, die im Kulturzentrum deSingel in Antwerpen ansässig ist. [...]
Was treibt ihn um? Was treibt ihn an? Verschiedene Kulturen – auch weil seine Identität in zwei Kulturen wurzelt. Verschiedene Religionen – auch hier ist er von zweierlei Religionen geprägt und stets neugierig auf andere Glaubensrichtungen. Verschiedene Kunststile – Kompositionen von Maurice Ravel und Igor Strawinsky finden ebenso Beachtung wie Songs von Beyoncé, die Bewegungsabläufe beim Breakdance oder das Leben des Manga-Zeichners Osamu Tezuka. Mir kommt der Begriff „kosmopolitisch“ in den Sinn und man könnte meinen, dass Künstler schon immer unterschiedlichste Einflüsse wahrnahmen und in ihre Produktionen aufnahmen, sich schon vor Jahrhunderten von anderen Kulturen, Religionen und Kunststilen inspirieren ließen. Man denke an die Maler, Bildhauer und Architekten des 18. Jahrhunderts, die sich von der Kunst des antiken Griechenlands beeinflussen ließen; der Impressionismus und Post-Impressionismus nahm Einflüsse der japanischen Kunst auf. Ist es heute schwerer, in einem Kunstwerk etwas Neues zu erschaffen, weil irgendwie alles schon einmal in ähnlicher Form da war? Oder ist es sogar einfacher, weil man aus einem schier endlosen Fundus schöpfen kann – mit ein paar Klicks. Was macht das Besondere, das Einmalige an einem neuen Kunstwerk aus? Ein neues Gedicht. Ein neues Gemälde. Eine neue Plastik. Eine neue Choreographie. Eine neue Fotographie. Ein neues Musikstück. Gibt es das, etwas vollkommen Neues? Naturgesetze können nicht ausgehebelt werden aber wir können unsere Wahrnehmung hinterfragen und unser Verständnis, unsere Deutung. Was für mich etwas Berührendes hat, ist für jemand anderen etwas Triviales. Worüber ich staune, langweilt jemand anderen. Wo ich von der Atmosphäre begeistert bin, analysiert ein anderer technische Details. Wenn ich eine Szene entspannt auf mich wirken lasse, kaut der Sitznachbar in der Zuschauerreihe hyperstimuliert Kaugummi (und bemerkt die heftigen Kieferbewegungen selbst nicht einmal). In einem vollbesetzten Theater, sagen wir 1.300 Menschen in der Semperoper Dresden muss man sich in Toleranz und Zurückhaltung üben. 1.300 Personen schauen in die gleiche Richtung, auf die Bühne und sehen doch sehr verschiedene Dinge. Erleben das Schauspiel, das Konzert, das Ballett unterschiedlich. Ganz zu schweigen von dem Komponisten, den Musikern, den Schauspielern, dem Dramaturgen, dem Kostümbildner, den Tänzern, der Dirigentin, dem Choreographen... auf und hinter der Bühne. Ich habe an diesem Abend hunderte Emotionen, Gedanken, Fragen und dann doch keine einzige mehr, als ich zu hause aus dem Auto aussteige und Glühwürmchen über dem Rasen hinter dem Haus leuchten sehe.

Yana Arlt


Der Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem beinahe richtigen ist der gleiche, wie zwischen einem Blitz und einem Glühwürmchen.

Mark Twain

 


 Foto: Lydia Arlt Kirste ~ Blick vom Balkon der Semperoper auf den Semperoperplatz