Eine Gruppe junger Leute findet sich
mehr oder weniger spontan zusammen, um eine Videoreihe zu beginnen:
Jeden Abend soll eine Novelle aus Giovanni Boccaccios „Decamerone“
vorgestellt werden. Die Minilesungen werden über einen Youtube-Kanal
veröffentlicht und auf Facebook beworben. Die Gruppe wird
erstaunlich schnell aktiv, innerhalb kürzester Zeit werden ein
Terminplan erstellt, die Vorbereitungen abgeschlossen und das
Projekt, als Beitrag zur grassierenden
Online-Unterhaltungsmaschinerie während der härtesten Home-Office-
und Quarantänephase in Zeiten von Covid-19, gestartet.
Ziemlich genau so hat es sich Ende März
in Stuttgart abgespielt, beteiligt waren hauptsächlich kreativ
Schreibende, die sich regelmäßig bei einem
„Schreibenden-Stammtisch“ im Literaturhaus treffen. Die
Begeisterung war hoch, die vorgeschlagene Vorgehensweise wurde
umstandslos akzeptiert, nach nur wenigen Diskussionen, allesamt
konstruktiv und sachlich, konnte es losgehen. Der Ausblick, Kunst
betreiben zu können, und sei es „nur“ in Form von Vorlesen
nicht-eigener Texte, schien die Beteiligten keine Sekunde darüber
nachdenken zu lassen, warum sie so etwas tun sollten, warum sie ihre
Freizeit mit der Aufnahme von Videos, dem Speichern, Verschicken und
Bewerben von Lese-Perfomances verbringen sollten, während doch nur
wenige Tastendrücker entfernt die unendlichen Welten von Netflix,
Prime und co. warten.
Genau das ist es, was für mich
persönlich eine wahre Künstlernatur ausmacht. Wenn ich im Laufe
meines Lebens gefragt wurde, warum ich schreibe, fiel es mir jedes
Mal schwer, eine Antwort darauf zu finden. Warum atme ich? Warum
schlafe ich? Über so etwas denke ich nicht nach, es gehört ganz
einfach zu meiner innersten Natur, ohne die es mir bedeutend
schlechter gehen würde.
Was nicht heißt, dass man nicht
darüber nachdenken kann. Oder manchmal sollte. Reflexion, besonders
Selbstreflexion, gehört zum innersten Kern jeder wahren Kunst. Das
hat sich auch wieder bei dieser „Decamerone“-Aktion gezeigt, als
das unrühmliche Ende näher rückte: Weil die Youtube-Videos nur
noch einstellige Klickzahlen erzielten, wurde das Projekt quasi
einstimmig eingestellt – nach Wortmeldung der meisten Beteiligten
lohnte sich der Aufwand nicht mehr, auch wenn allesamt betonten, es
habe ihnen wirklich Spaß gemacht.
Was das für eine Logik ist? Ganz klar,
das ist die uns allen seit mindestens 30 Jahren gnadenlos und
ununterbrochen eingeimpfte Logik eines kapitalistischen Wettbewerbs-
und Erfolgsdenkens. Alles was wir tun, womit wir unsere Zeit
verbringen und wofür wir uns interessieren, soll in irgendeiner
Weise mit dem Erreichen eines Ziels, mit „Erfolg“ zu tun haben.
Das wird uns multimedial so penetrant und durchaus subtil eingeredet,
dass die allermeisten von uns wohl gar nicht mehr bemerken, dass sie
in einem solchen Denken gefangen sind.
[...]
aus:
Alexander Kiensch
Keine
Klicks, keine Kultur?
Über den Wert der
Kunst im kapitalistischen System
vollständiger Beitrag im NLZettel Juni
Jetzt in den NLZettel-Verteiler aufnehmen lassen:
nlz-ich-schreibe@gmx.de