Montag, 13. November 2023

Inspirieren lassen ~ vorlesen

 

Hörbücher haben Hochkonjunktur. Welt- und Bestsellerliteratur auf die Ohren und nebenbei Bügeln, Fahrrad fahren und Waffe putzen... oder andere Tätigkeiten ausüben, die nicht zu geräuschintensiv sind. Aber was man irgendwann aus Lautsprecherboxen und Kopfhörern sprudeln lässt, muss ja auch von jemandem eingesprochen werden. Dazu braucht es Sprecher, braucht es Vorleser. Am kommenden Freitag wird vielerorts auch wieder live vorgelesen, in Kindergärten, Schulen, Bibliotheken – meist sind Kinder das Publikum für Veranstaltungen im Rahmen des Bundesweiten Vorlesetages, einer Aktion von „Die Zeit“, „Stiftung Lesen“ und „Deutsche Bahn Stiftung“. Warum eigentlich? Warum nicht auch eine Vorleseaktion für Erwachsene oder eine Vorlesestunde für Senioren? Warum nicht ein Geschichtenvorlesenachmittag für Blinde und Sehschwache? Warum nicht einen Lyrikvorleseabend für Legastheniker und Analphabeten? Allein in Deutschland leben ca. 3,5 Millionen Legastheniker, Menschen mit gravierenden Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und/oder Schreibens und 7,5 Millionen funktionale Analphabeten, Menschen, die Probleme haben, zusammenhängende kürzere Texte zu verstehen.
Ich erinnere mich auch, wie eine Vorleseaktion des Autorenkollektivs Frei!Geist in Corona-Zeiten den Zusammenhalt der Gruppe und die Kontakte zu anderen Menschen förderte. Gelesen wurden die ersten Kapitel des „Decamerone“ von G. Boccaccio. „Decameron in Zeiten der Corona“ hieß die Aktion, die am 30. März 2020 startete. Man kann die von Alexander Kiensch initiierte Vorlesereihe sogar noch auf Youtube abrufen. Entsprechende Links gibt es auf dem NLZ-Blog. Es gab sogar 10 Abonnenten der Lesereihe :-)
Die Decameron-Geschichten sind nun wirklich kein Vorlesestoff für Kita & Co. Aber das sind ja Krimis und Thriller auch nicht und es gibt sie massenhaft als Hörbücher. Was kennzeichnet ein gutes Hörbuch? Zunächst, ein Hörbuch ist etwas anderes als ein Hörspiel, bei manchen Ausführungen sind die Grenzen allerding fließend. So wie auch bei unseren Lesungen, die überwiegend mit Lyrik und Kurzprosa gestaltet sind und bei denen wir kleine Spielszenen einbauen oder Klänge für Übergänge und Pausen zum Nachsinnen nutzen. Zurück zum Hörbuch: Der Sprecher/ die Sprecherin sollte eine angenehme Stimmfarbe haben, dass man ihm/ ihr gut zuhören kann. Er/ sie vermag mit der Stimme Feinheiten der Geschichte herauszuarbeiten, der Text wird nicht gleichförmich gesprochen, sondern wird unterschiedlich betont. Oftmals ist das Hörempfinden sehr subjektiv, genau wie die Wahl eines Buchthemas und die Art wie ein Autor/ eine Autorin schreibt. Es empfiehlt sich, ein Buchteil probezuhören, wie man bei einem Printbuch ja auch nach Verfasser, Titel, Klappentext und Leseprobe sich für den Kauf entscheidet oder gegen ihn. Ein gutes Buch muss aber kein gutes Hörbuch werden. Oft wird der Text gekürzt, die stimmliche Gestaltung von Dialogen kann übertrieben und damit bald nervig sein.
Hier ein feiner Beitrag von Emma zum Thema Qualität von Hörbüchern.
Ich erinnere mich an meinen Großvater, dem wir immer das dickste Buch in die Hand gaben, um uns noch ein und noch ein und noch ein Märchen von den Gebrüdern Grimm, von E.T.A Hoffmann, von Ludwig Bechstein, von Hans Christian Andersen... vorzulesen, während die Eltern im Kino oder bei einer Geburtstagsfeier waren. Wie wundervoll er vorlesen konnte! Wie geduldig er unserem Drängen nachgab. Ich weiß nicht, wie viele Stunden er bei uns saß und las. Es ist überhaupt nicht verwunderlich, dass der Bundesweite Vorlesetag immer in die Zeit fällt, in der mein Großvater Geburtstag hatte.

Yana Arlt


Gertrud Kolmar

MÄRCHEN

Ich hab vor deinem Hause still gestanden
In einer Nacht.
Und hatte ganz dich lieb und ohne Maßen;
Ich wies zu dir den Sternen goldne Straßen
Und habe selig stumm gelacht.

Ob meinem losen Haar hob ich die Arme
Wie Zweige, schlank und rund.
Da stürzte Regen in das Mainachtschweigen
Und rief sich zage Blüten aus den Zweigen,
Und jede war ein blasser Mund.

Du aber kamst nicht.
So streute ich mit lächelndem Verschwenden
Dem Mond die Blumen her.
Und spürte Treiben herber, dunkler Kräfte,
Mir ward die Frucht voll süßer, süßer Säfte;
Schon fiel sie, duftend, weich und schwer.

Du aber kamst nicht.
Eishagel tanzte höhnend auf den Steinen.
Da klaffte schwarz ein Schacht.
Drein ließ ich die zerbrochnen Arme hangen. -
Geblüht und Frucht getragen - und vergangen
In einer Nacht.