Hörbücher haben Hochkonjunktur. Welt-
und Bestsellerliteratur auf die Ohren und nebenbei Bügeln, Fahrrad
fahren und Waffe putzen... oder andere Tätigkeiten ausüben, die
nicht zu geräuschintensiv sind. Aber was man irgendwann aus
Lautsprecherboxen und Kopfhörern sprudeln lässt, muss ja auch von
jemandem eingesprochen werden. Dazu braucht es Sprecher, braucht es
Vorleser. Am kommenden Freitag wird vielerorts auch wieder live
vorgelesen, in Kindergärten, Schulen, Bibliotheken – meist sind
Kinder das Publikum für Veranstaltungen im Rahmen des Bundesweiten
Vorlesetages, einer Aktion von „Die Zeit“, „Stiftung Lesen“
und „Deutsche Bahn Stiftung“. Warum eigentlich? Warum nicht auch
eine Vorleseaktion für Erwachsene oder eine Vorlesestunde für
Senioren? Warum nicht ein Geschichtenvorlesenachmittag für Blinde
und Sehschwache? Warum nicht einen Lyrikvorleseabend für
Legastheniker und Analphabeten? Allein in
Deutschland leben ca. 3,5 Millionen Legastheniker, Menschen mit
gravierenden
Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und/oder Schreibens und 7,5
Millionen funktionale Analphabeten,
Menschen, die Probleme
haben, zusammenhängende kürzere Texte zu verstehen.
Ich erinnere
mich auch, wie eine Vorleseaktion des Autorenkollektivs Frei!Geist in
Corona-Zeiten den Zusammenhalt der Gruppe und die Kontakte zu anderen
Menschen förderte. Gelesen wurden die ersten Kapitel des
„Decamerone“ von G. Boccaccio. „Decameron in Zeiten der Corona“
hieß die Aktion, die am 30. März 2020 startete. Man kann die von
Alexander Kiensch initiierte Vorlesereihe sogar noch auf Youtube
abrufen. Entsprechende Links gibt es auf dem NLZ-Blog.
Es gab sogar 10 Abonnenten der Lesereihe :-)
Die
Decameron-Geschichten sind nun wirklich kein Vorlesestoff für Kita &
Co. Aber das sind ja Krimis und Thriller auch nicht und es gibt sie
massenhaft als Hörbücher. Was kennzeichnet ein gutes Hörbuch?
Zunächst, ein Hörbuch ist etwas anderes als ein Hörspiel, bei
manchen Ausführungen sind die Grenzen allerding fließend. So wie
auch bei unseren Lesungen, die überwiegend mit Lyrik und Kurzprosa
gestaltet sind und bei denen wir kleine Spielszenen einbauen oder
Klänge für Übergänge und Pausen zum Nachsinnen nutzen. Zurück
zum Hörbuch: Der Sprecher/ die Sprecherin sollte eine angenehme
Stimmfarbe haben, dass man ihm/ ihr gut zuhören kann. Er/ sie vermag
mit der Stimme Feinheiten der Geschichte herauszuarbeiten, der Text
wird nicht gleichförmich gesprochen, sondern wird unterschiedlich
betont. Oftmals ist das Hörempfinden sehr subjektiv, genau wie die
Wahl eines Buchthemas und die Art wie ein Autor/ eine Autorin
schreibt. Es empfiehlt sich, ein Buchteil probezuhören, wie man bei
einem Printbuch ja auch nach Verfasser, Titel, Klappentext und
Leseprobe sich für den Kauf entscheidet oder gegen ihn. Ein gutes
Buch muss aber kein gutes Hörbuch werden. Oft wird der Text gekürzt,
die stimmliche Gestaltung von Dialogen kann übertrieben und damit
bald nervig sein. Hier
ein feiner Beitrag von Emma zum Thema Qualität von Hörbüchern.
Ich
erinnere mich an meinen Großvater, dem wir immer das dickste Buch in
die Hand gaben, um uns noch ein und noch ein und noch ein Märchen
von den Gebrüdern Grimm, von E.T.A Hoffmann, von Ludwig Bechstein,
von Hans Christian Andersen... vorzulesen, während die Eltern im
Kino oder bei einer Geburtstagsfeier waren. Wie wundervoll er
vorlesen konnte! Wie geduldig er unserem Drängen nachgab. Ich weiß
nicht, wie viele Stunden er bei uns saß und las. Es ist überhaupt
nicht verwunderlich, dass der Bundesweite Vorlesetag immer in die
Zeit fällt, in der mein Großvater Geburtstag hatte.
Yana Arlt
Gertrud Kolmar
MÄRCHEN
Ich
hab vor deinem Hause still gestanden
In einer Nacht.
Und hatte
ganz dich lieb und ohne Maßen;
Ich wies zu dir den Sternen goldne
Straßen
Und habe selig stumm gelacht.
Ob meinem losen Haar
hob ich die Arme
Wie Zweige, schlank und rund.
Da stürzte
Regen in das Mainachtschweigen
Und rief sich zage Blüten aus den
Zweigen,
Und jede war ein blasser Mund.
Du aber kamst
nicht.
So streute ich mit lächelndem Verschwenden
Dem Mond die
Blumen her.
Und spürte Treiben herber, dunkler Kräfte,
Mir
ward die Frucht voll süßer, süßer Säfte;
Schon fiel sie,
duftend, weich und schwer.
Du aber kamst nicht.
Eishagel
tanzte höhnend auf den Steinen.
Da klaffte schwarz ein
Schacht.
Drein ließ ich die zerbrochnen Arme hangen. -
Geblüht
und Frucht getragen - und vergangen
In einer Nacht.