Fasziniert schaue ich auf das
Postkarten große Bild in meiner Hand. Bücherregale, die vom
Fußboden bis zur Decke reichen. Eine Glaskuppel über dem Saal, von
Grünpflanzen umrankt, sich über die Dielen und Stufen, an den
Wänden entlang windendes Grün, eine offen stehende Tür. Mindestens
einmal am Tag nehme ich das Bild zur Hand und fantasiere mich als
unerlaubter Besucher an diesen verlorenen Ort. Jedes Mal, wenn ich
mein Schreibbuch öffne, um die abendliche Pflichtaufgabe einer
Lyrik- oder Gedankennotiz zu erfüllen. Eine tägliche
Pflichtaufgabe, die ich mir selbst stellte, vor ca. 16 Jahren. Nein,
so viele Bücher wie in dieser verschollenen Bibliothek auf dem Bild
stehen und liegen nicht in meinen Regalen. Es ist sehr
unterschiedlich, welche Zeiträume ein Buch mit den Blancoseiten
umfasst. Das derzeitige im dunkelroten Umschlag begann ich am 7. März
2023. Es war Vollmond, als ich die ersten Zeilen schrieb: „Verträge
unterzeichnen / Empfänge quittieren / Zahlungen bestätigen“.
Für
mich ist nicht eindeutig zu erkennen, ob das Bild ein Foto ist oder
ob es am PC kreiert wurde. Es ist ein Ort zum Träumen – fast meine
ich Vogelgesang wahrzunehmen, den Duft von einem Sommerregen, denn
das üppige Blattwerk lässt auf einen Tag im Juni oder Juli
schließen. Ich gleite mit meinen Fingerspitzen über ein rotes
Pappelblatt, dass ich zwischen die Seiten gelegt habe, ich fand es am
vergangenen Wochenende am Seeufer. Wie ein rotes Herz leuchtete es
auf dem beige-grauen-Sand und läutet in der Hochzeit bereits das
Ende des Sommers ein. Ich stelle mir vor, wie ein Protokollant an einem
Schreibtisch aus Kirschholz sitzt und meine Gedanken notiert, wie er
jeden meiner Gedanken in ein Buch schreibt und wie er jeden Gedanken
anderer über mich notiert, dann das Buch mit den gefüllten Seiten
ins Regal stellt. So ergibt sich die überbordende Biliothek der
Gedankenprotokolle. Ob ich wohl, wenn ich eine Leiter anstelle und
einen Folianten aus dem Regal nehme, das Protokoll DEINER Gedanken in
den Händen halte? Wenn ich es aufschlage und lese, was erfahre ich
dann über dich und über mich?
Yana Arlt
Die
Bibliothek wird von Geistern bewohnt,
die nachts aus den Seiten
kommen.
Isabel Allende