Verhüllen
Enthüllen
Hineingehen
Hinausgehen
Einsteigen
Aussteigen
Die
Wassertemperatur im Wörthersee beträgt 26°C. Das Alter des
Pianisten und Komponisten Yaroslav Molochnyk beträgt 23 Jahre. Das
Alter der Dorfkirche Freienhufen beträgt 739 Jahre. 7 ist eine
Primzahl. 3 ist eine Primzahl. 9 ist keine Primzahl. 739 ist keine
Primzahl. Gerade eben – wirklich gerade eben (15:32 Uhr) flog
ein Schmetterling in den Raum, drehte ein paar Runden um den Tisch
und flog wieder hinaus. Das Alter der Linde auf der (Halb)Insel
Maria Wörth beträgt 683 Jahre. 6 ist keine Primzahl. 8 ist keine
Primzahl. 3 ist eine Primzahl. 683 ist eine Primzahl. Ich stehe als
Letzte in der Reihe … als 7te oder 23te oder 8695te - fühle mich
nur durch 1 und mich selbst teilbar. Ich mache die ganze Gruppe, wie
sie einer hinter dem anderen vor mir steht unteilbar. Wir betreten
das Schiff und verteilen uns in Kabine und Oberdeck. Wir sind
teilbar. Treff, um das Schiff zu verlassen. Sammelpunkte. Karten.
Stempel. Orte. Plätze. Uralte Plätze. Unzugänglich. Öffentlich.
Interpretationsraum. „Ihre Fahrscheine bitte!“, sagt der
Zugbegleiter. Codes. Ich lasse meinen Blick über die Reliefs und
Wandgemälde gleiten. Scann. ICE 503 / Wagon 7 / Platz 91. Ich habe
Molochnyks „Tenderness“ im Ohr … angemeldet … das Telefon
klingelt … ja, Verlauf der Fahrt bisher planmäßig, Ankunft
planmäßig. Ich bin von der Zug-Teilung irritiert. „Sie befinden
sich hier“. Die Wassertemperatur im Senftenberger See beträgt
23°C. Zwei Stücken Wiener Mohnstrudel vom Münchner Hauptbahnhof.
Yana Arlt
Giannina
Wedde
KLANGGEBET
Heute will ich es wagen
Fragtest du
mich, worunter ich leide,
so schwiege ich von den Einsamkeiten,
die mich befallen,
selbst unter Menschen, deren Hände und Worte
warm sind
und weich wie der Duft der Magnolie.
Auch von
durchbangten Nächten, in denen ich manches Unheil erwartete das
niemals eintrat, schwiege ich, wie von den Tagen,
an denen ich
blind für das Wunder blieb, das mich atmend umspinnt.
Ich spräche
nicht von den Wunden und Narben, von denen ich ahne dass sie mich
zeichnen, doch nicht entstellen,
und nicht von den schwerer
werdenden Gliedern,
der wachsenden Müdigkeit, die manchmal selbst
tiefer Schlaf nicht mehr besänftigt.
Ich spräche auch nicht von
den Kostbarkeiten, die ich verlor,
wie wir sie alle verlieren an
die unerbittliche Hand der Zeit.
Nicht von unerhörten Gebeten.
Nicht von unerwiderter Liebe.
Doch vom Versäumnis.
Dieser um
reifendes Leben gebrachten Möglichkeit.
Von der Stille, der ich
nicht erlaubte, mich zu verführen
zur Schönheit und zum
Schrecken des Augenblicks.
Vom Ja, das ich nicht aussprach, weil
ich mich schämte bedürftig zu sein.
Vom Nein, das mir unsagbar
blieb, weil ich nicht wagte, die heilige Grenze zu hüten.
Vom
ermutigenden Blick, den ich nicht verschenkte,
an einen Menschen
ohne Zuversicht.
Von Verzeihung, um die ich nicht bat.
Von der
schmerzlichen Wahrheit, die zu ertragen ich mir nicht zutraute.
Ich
spräche vom ersten Schritt, den ich nicht ging,
obwohl die
weglose Fremde unablässig von mir träumte.
Von der Süße der
Freiheit, die ich nicht schmeckte, weil ich selbst
mich nicht aus
der Furcht entließ.
Auch von der Weite, die ich nicht wagte
auszufüllen, mit meinem Atem und meiner Sehnsucht, mit dem Staunen,
das manchmal, wenn wir uns selbst vergessen, so überreich aus
unserer Mitte fällt.
Ich spräche von den Worten, die mir nicht
über die Lippen kamen,
als Du vorübergingst, obwohl sie wahrer
gewesen wären als alles, was ich je sagte.
Du, anmutig wie die
sternklare Nacht, herrlich fremd und grundlos vertraut, allem
verwandt, was Leben verheißt.
Jedes Versäumnis ein Geist, der
mich plagt.
Doch nicht heute.
Denn heute will ich es
wagen, ganz hier zu sein,
heute will ich leben wie eine, deren
Haut ein Kleid ist, nicht Rüstung,
und deren Herz ein Flussbett,
durch das die Ströme rauschen.
Heute werde ich leben, ohne
Verlorenheit,
aufgelesen von meinem Wollen und der Freude des
Tages an mir, seinem Kind.
Ich werde den Klang meiner Träume
teilen und das Geheimnis darin, das webt und atmet, auch ohne mein
Begreifen.
Werde hinabgehen zum Kummer der Stunde
und hinauf
zur Freude, die mich übersteigt.
Werde bei mir sein auf eine
Weise, die mich der Welt nicht nimmt,
die mich verschenkt, auch an
meine alt gewordenen Untröstlichkeiten und an die Risse, durch die
das Licht sich den Weg bahnen muss.
Zwischen zwei Lidschlägen
werde ich ihr begegnen,
die mich lockt und ruft, die mich hält
und entlässt,
ihr, der Unbekannten, die ich noch werden darf.