Ich habe es zu Ende gelesen … heute …
nach zwei Jahrzehnten (oder mehr) … Franz Kafka „Das Schloß“.
Habe es begonnen, da war ich xx Jahre alt und kam bis Seite 110. Dann
war Schluss und das Buch stand und stand und ich nahm es vor einigen
Wochen wieder zur Hand und dachte: Jetzt! Jetzt liest du es! Du
ziehst das jetzt durch! Kam auch gut über die 110er Marke aber
später gab es einige Momente, in denen es mir fast wieder entglitten
wäre. Halte durch! Das ist ein Klassiker der Literaturgeschichte,
den musst du dir jetzt reinziehen. Und dann las ich den letzten
Absatz auf Seite 394 der Fischer Taschenbuchausgabe von 1992: „Die
Stube von Gerstäckers Hütte war nur vom Herdfeuer matt beleuchtet
und von einem Kerznstumpf, bei dessen Licht jemand in einer Nische
gebeugt unter den dort vortretenden schiefen Dachbalken in einem Buch
las. Es war Gerstäckers Mutter. Sie reichte K. die zitternde Hand
und ließ ihn neben sich niedersetzen, mühselig sprach sie, man
hatte Mühe sie zu verstehen, aber was sie sagte“
Ich hatte mich
durch endlose Monologe von Frieda, von K., von dem Lehrer, von dem
Vorsteher, von der Wirtin, von Olga etc. gekämpft und dann das. Aber
es ist ja so, dass man ein Buch, das nicht zu Ende geschrieben wurde
auch nie zu Ende lesen kann. In der Nachbemerkung von Malcolm Pasley
heißt es: „Kafka hat im Januar 1922 mit der Arbeit am >Schloß<
begonnen, vermutlich am ersten Tag eines Erhohlungsurlaubs im
Riesengebirge. Er hatte nach einem schweren Nervenzusammenbruch
offenbar den Entschluß gefaßt, zum ersten Mal seit dem Ausbruch
seiner Lungentuberkulose (1917) ein größeres literarisches Werk zu
unternehmen. Er setzte die Arbeit am Roman zuerst in Prag, dann bei
seiner Schwester Ottla auf dem Lande fort. Im September 1922 erleidet
er jedoch einen weiteren „Zusammenbruch“; er schreibt an Max Brod
(11.9.22): ,diese Woche habe ich nicht sehr lustig verbracht, denn
ich habe die Schloßgeschichte offenbar für immer liegen lassen
müssen.' Wie alle seine früheren Romanversuche ist also auch dieser
letzte umfrangreichste Fragment geblieben.“ Im Roman ist es später
Herbst oder Winter, ständig sind die Figuren müde, überfordert,
sie frieren und hungern – der Hof, auf den ich schaue, während ich
die letzten Zeilen auf Seite 394 lese ist verschneit, für die
kommenden Nächte und Tage ist leichter Dauerfrost vorausgesagt. Ich
befinde mich mitten in der Szenerie der Geschichte um den
Landvermesser K., der einem Ruf in ein kleines Städtchen folgte, um
dort eine Stellung anzunehmen aber niemand hat hier auf ihn gewartet,
niemand er-wartet ihn, es beginnt eine Odyssee durch Amtsstuben und
Verwaltungszimmer, die ihn keinen Schritt weiter bringt. Unter
getabstract
findet man eine Zusammenfassung der Geschehnisse, die sich auf knapp
400 Seiten ineinanderhaken, sich miteinander verflechten und
irgendwann ein unentwirrbares Netzwerk ergeben. Jeder hat mit jedem
auf irgendeine Weise zu tun, es herrschen Neid, Frust, Angst und hin
und wieder schimmert Hoffnung und Zuneigung durch. Ich reflektiere
die eigenen Begegnungen und Erfahrungen der vergangenen Wochen und entdecke
Parallelen, gerade diese Ähnlichkeiten machen es mir zeitweise
unmöglich, weiter zu lesen. Man bemerke: Die Geschichte wurde vor 100
Jahren geschrieben, exakt 100 Jahre nachdem der Autor Franz Kafka
feststellt: „ich habe die Schloßgeschichte offenbar für immer
liegen lassen müssen“ beginne ich das zu lesen, was bis zum
September 1922 entstanden ist. Als Autorin hatte ich nie die
Ambitionen, einen Roman zu schreiben, ich fühle mich der Lyrik
verbunden, nur ab und zu entstanden Kurzgeschichten – ganz kurze
Kurzgeschichten und niemals hätte ich die Strebsamkeit für eine
Geschichte, die mehrere hundert Seiten in Anspruch nimmt. Ich bin
auch wahrlich kein passionierter Romanleser aber wenn ich dann ein
Buch aufschlage, dann kann ich mich „verlieben“ in die Figuren,
in die Sprache, in die Bedeutung von wohlgesetzten Worten …
„Man
ist unwillkürlich geneigt, in der Nacht die Dinge von einem mehr
privaten Gesichtspunkt zu beurteilen“
„Nur gibt es
freilich Gelegenheiten, die gewissermaßen zu groß sind, um benützt
zu werden; es gibt Dinge, die an nichts anderem als an sich selbst
scheitern.“
„es sind hohe Herren, aber man muß kräftig
seinen Ekel überwinden, um nach ihnen aufräumen zu können […]
Und niemals ein gutes Wort, immer nur Vorwürfe“
„gedankenlose
Ängstlichkeit der Leute, Freude am Schaden des Nächsten,
unzuverlässige Freundschaft, Dinge, die überall anzutreffen
sind“
„Ist aber denn Dein ganzes früheres Leben für Dich
so versunken […] daß Du nicht mehr weißt, wie um das
Vorwärtskommen gekämpft werden muß, besonders wenn man von tief
untenher kommt? Wie alles benützt werden muß, was irgendwie
Hoffnung gibt?“
Festung "Schloss Senftenberg", Dezember 2021