Montag, 12. Dezember 2022

Inspirieren lassen

Ich habe es zu Ende gelesen … heute … nach zwei Jahrzehnten (oder mehr) … Franz Kafka „Das Schloß“. Habe es begonnen, da war ich xx Jahre alt und kam bis Seite 110. Dann war Schluss und das Buch stand und stand und ich nahm es vor einigen Wochen wieder zur Hand und dachte: Jetzt! Jetzt liest du es! Du ziehst das jetzt durch! Kam auch gut über die 110er Marke aber später gab es einige Momente, in denen es mir fast wieder entglitten wäre. Halte durch! Das ist ein Klassiker der Literaturgeschichte, den musst du dir jetzt reinziehen. Und dann las ich den letzten Absatz auf Seite 394 der Fischer Taschenbuchausgabe von 1992: „Die Stube von Gerstäckers Hütte war nur vom Herdfeuer matt beleuchtet und von einem Kerznstumpf, bei dessen Licht jemand in einer Nische gebeugt unter den dort vortretenden schiefen Dachbalken in einem Buch las. Es war Gerstäckers Mutter. Sie reichte K. die zitternde Hand und ließ ihn neben sich niedersetzen, mühselig sprach sie, man hatte Mühe sie zu verstehen, aber was sie sagte“
Ich hatte mich durch endlose Monologe von Frieda, von K., von dem Lehrer, von dem Vorsteher, von der Wirtin, von Olga etc. gekämpft und dann das. Aber es ist ja so, dass man ein Buch, das nicht zu Ende geschrieben wurde auch nie zu Ende lesen kann. In der Nachbemerkung von Malcolm Pasley heißt es: „Kafka hat im Januar 1922 mit der Arbeit am >Schloß< begonnen, vermutlich am ersten Tag eines Erhohlungsurlaubs im Riesengebirge. Er hatte nach einem schweren Nervenzusammenbruch offenbar den Entschluß gefaßt, zum ersten Mal seit dem Ausbruch seiner Lungentuberkulose (1917) ein größeres literarisches Werk zu unternehmen. Er setzte die Arbeit am Roman zuerst in Prag, dann bei seiner Schwester Ottla auf dem Lande fort. Im September 1922 erleidet er jedoch einen weiteren „Zusammenbruch“; er schreibt an Max Brod (11.9.22): ,diese Woche habe ich nicht sehr lustig verbracht, denn ich habe die Schloßgeschichte offenbar für immer liegen lassen müssen.' Wie alle seine früheren Romanversuche ist also auch dieser letzte umfrangreichste Fragment geblieben.“ Im Roman ist es später Herbst oder Winter, ständig sind die Figuren müde, überfordert, sie frieren und hungern – der Hof, auf den ich schaue, während ich die letzten Zeilen auf Seite 394 lese ist verschneit, für die kommenden Nächte und Tage ist leichter Dauerfrost vorausgesagt. Ich befinde mich mitten in der Szenerie der Geschichte um den Landvermesser K., der einem Ruf in ein kleines Städtchen folgte, um dort eine Stellung anzunehmen aber niemand hat hier auf ihn gewartet, niemand er-wartet ihn, es beginnt eine Odyssee durch Amtsstuben und Verwaltungszimmer, die ihn keinen Schritt weiter bringt. Unter getabstract findet man eine Zusammenfassung der Geschehnisse, die sich auf knapp 400 Seiten ineinanderhaken, sich miteinander verflechten und irgendwann ein unentwirrbares Netzwerk ergeben. Jeder hat mit jedem auf irgendeine Weise zu tun, es herrschen Neid, Frust, Angst und hin und wieder schimmert Hoffnung und Zuneigung durch. Ich reflektiere die eigenen Begegnungen und Erfahrungen der vergangenen Wochen und entdecke Parallelen, gerade diese Ähnlichkeiten machen es mir zeitweise unmöglich, weiter zu lesen. Man bemerke: Die Geschichte wurde vor 100 Jahren geschrieben, exakt 100 Jahre nachdem der Autor Franz Kafka feststellt: „ich habe die Schloßgeschichte offenbar für immer liegen lassen müssen“ beginne ich das zu lesen, was bis zum September 1922 entstanden ist. Als Autorin hatte ich nie die Ambitionen, einen Roman zu schreiben, ich fühle mich der Lyrik verbunden, nur ab und zu entstanden Kurzgeschichten – ganz kurze Kurzgeschichten und niemals hätte ich die Strebsamkeit für eine Geschichte, die mehrere hundert Seiten in Anspruch nimmt. Ich bin auch wahrlich kein passionierter Romanleser aber wenn ich dann ein Buch aufschlage, dann kann ich mich „verlieben“ in die Figuren, in die Sprache, in die Bedeutung von wohlgesetzten Worten …

„Man ist unwillkürlich geneigt, in der Nacht die Dinge von einem mehr privaten Gesichtspunkt zu beurteilen“

„Nur gibt es freilich Gelegenheiten, die gewissermaßen zu groß sind, um benützt zu werden; es gibt Dinge, die an nichts anderem als an sich selbst scheitern.“

„es sind hohe Herren, aber man muß kräftig seinen Ekel überwinden, um nach ihnen aufräumen zu können […] Und niemals ein gutes Wort, immer nur Vorwürfe“

„gedankenlose Ängstlichkeit der Leute, Freude am Schaden des Nächsten, unzuverlässige Freundschaft, Dinge, die überall anzutreffen sind“

„Ist aber denn Dein ganzes früheres Leben für Dich so versunken […] daß Du nicht mehr weißt, wie um das Vorwärtskommen gekämpft werden muß, besonders wenn man von tief untenher kommt? Wie alles benützt werden muß, was irgendwie Hoffnung gibt?“

 

 

Festung "Schloss Senftenberg", Dezember 2021