Montag, 19. Dezember 2022

Inspirieren lassen

Neben „Das Schloß“ von Franz Kafka habe ich in diesem Jahr auch ein weiteres Buch endlich fertig gelesen, „Der Krieg mit den Molchen“ vom tschechischen Schriftsteller Karel Čapek. Es ist eines der Lieblingsbücher von Wolfgang Wache, das er in jungen Jahren mit Begeisterung las. Ich las sogar die mir von ihm überlassene Ausgabe vom Aufbau-Verlag Berlin, die 1956 herausgegeben wurde, die Übersetzung vom Tschechischen ins Deutsche erarbeitete Julius Mader.
Von Beginn an war ich gefangen in den surrealen Ereignissen, die doch fast erschreckende Parallelen zum heutigen Weltgeschehen aufweisen. So las ich das Kapitel 7 „Das Erdbeben von Lousiana“ gerade in der Zeit, als Lecks an den Ostsee-Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 festgestellt wurden. Im Buch heißt es: „An diesem Tag – es war der 11. November um ein Uhr morgens – wurde in New Orleans ein heftiger Erdstoß verspürt; einige Häuser […] stürzten ein; die Menschen liefen vor Schreck auf die Straßen hinaus, doch das Erdbeben wiederholte sich nicht mehr; nur ein tosender, kurzer Zyklon kam in furchtbarem Ansturm angebraust […] Während Brownells Voraussagen einer geologischen Katastrophe durch die Rotationsmaschinen liefen, erhielt der Gouverneur des Staates Louisiana von Fort Jackson ein Telegramm folgenden Wortlauts:
bedauern verluste an menschenleben stop trachteten euren städten auszuweichen doch rechneten wir nicht mit dem abprall und anprall des meerwassers bei der explosion stop haben dreihundertsechsundvierzig menschenopfer auf der ganzen küste festgestellt stop unser beileid stop chief salamander stop hallo hallo hier fred dalton poststation fort jackson soeben sind drei molche von hier weggegangen kamen vor zehn minuten auf die post ein telegramm aufgeben zielten mit pistolen auf mich sind schon wieder fort die hässlichen luder zahlten und liefen ins wasser nur der hund des apothekers hat sie gejagt sollten sich nicht in der stadt frei bewegen dürfen sonst nichts grüsst minni lacost ich schicke ihr einen kuss telegrafist fred dalton […]“ Kapitel 8 „Der Chief Salamander stellt Bedingungen“: „Hallo, ihr Menschen! In Louisiana. In Kiangsu. In Senegambia. Wir bedauern die Menschenleben. Wir wollen euch keine überflüssigen Verluste verursachen. Wollen nur, daß ihr die Meeresküsten an den Stellen räumt, die wir euch im vorhinein angegeben […] Bisher haben wir nur technische Versuche vorgenommen. Eure Sprengstoffe haben sich bewährt. Wir danken euch. [..] Wir brauchen nur mehr Wasser, mehr Küsten, mehr Untiefen für uns. Es sind unser zu viele. […] Am Nachmittag darauf wurden südwestlich von Mizen Head die Schiffe
Winnipeg, Manitoba, Ontario und Quebec versenkt. Eine Welle des Entsetzens ging durch die Welt. […]“ Kapitel 9 „Die Konferenz in Vaduz“: „Das war ein sonderbarer Krieg, wenn man es überhaupt Krieg nennen konnte; denn es gab weder einen Molchstaat noch eine anerkannte Molchregierung, der man offiziell die Feindschaft hätte erklären können. […] Daraufhin brachte England den Antrag ein, wonach sich alle Staaten verpflichten sollten, den Molchen keinerlei Waffen und Sprengstoffe mehr zu liefern. Der Antrag wurde nach reiflicher Überlegung abgelehnt...
Das Buch bietet ein Kaleidoskop an scharfsinnigen Beobachtungen menschlichen Denkens und Verhaltens. Karel Čapeks „Der Krieg mit den Molchen“ entstand 1936 und liest sich, als wäre er 2016 erschienen. Die Aktualität erklärt sich möglicherweise auch dadurch, dass sich Menschen in ihrer emotionalen, geistigen, mentalen Grundstruktur nicht ändern. Profitgier, Machthunger und Ruhmsucht sind anno 2022 ebenso allgegenwärtig wie sie es zu Beginn des letzten Jahrhunderts oder noch früher waren. Glücklicherweise gibt es aber auch immer Menschen, die sich für Respekt, Frieden, Harmonie etc. einsetzen. Vielleicht gibt es aber auch gar nicht Das Gute und Das Böse, können wir es besser einordnen, einfacher damit umgehen, wenn wir die Beweggründe erfahren und verstehen? Unter welchen Umständen sind wir kompromissbereit und wem oder was gegenüber bleiben wir eisern?
Die Spannung wurde für mich als Leser zum Ende des Buches hin fast unerträglich, wie löst der Autor den Konflikt, wie entwickelt sich das Verhältnis zwischen Menschen und Molchen, wohin führt der Autor uns und seine Romanfiguren? Seite um Seite lese ich, blättere ich, versuche zwischen den Lesezeiten einen Handlungsverlauf zu konstruieren, der wenn auch kein Happy End wenigstens in Zuversicht entlässt. Unbedingt empfehlenswert ist hierzu das Kapitel 11 „Der Verfasser spricht mit sich selbst“ zu lesen. Unbedingt empfehlenswert!


„Diese Partie verspielte ich. Mir fiel plötzlich ein, daß jeder Zug auf dem Schachbrett alt und bereits von irgendwem gespielt worden ist. Vielleicht ist auch unsere Geschichte schon gespielt worden, und wir ziehen unsere Figuren mit den gleichen Zügen, den gleichen Niederlagen entgegen wie einst.“

Karel Čapek „Der Krieg mit den Molchen“
Kapitel 2 „Auf den Stufen der Zivilisation“


Der besondere Tipp:
Radio-Lesung: Der Krieg mit den Molchen mit Ilja Richter und Götz Schulte, Regie: Fabian Kühlein, MDR KULTUR 2022 vom 12.12. bis 23.12.2022 in der „Lesezeit“ und in der Mediathek


 Yana Arlt