Montag, 28. November 2022

Inspirieren lassen

Ich kann nicht erklären warum, warum mag ich jenes Gedicht, jenes Bild, jenen Song und das/den/die anderen eben nicht oder sogar noch extremer, ich kann ein bestimmtes Lied nicht ausstehen oder ein bestimmtes Gemälde. Man sagt, das was man an sich selbst nicht mag, was man verleumdet oder versteckt und was man an anderen Menschen entdeckt, das stößt auf Ablehnung, auf Gegenwehr, auf Missmut. Prüfend gehe ich in mich: warum mag ich diesen Menschen nicht? Warum gefällt mir diese Plastik nicht? Warum empfinde ich dieser Lyrikerin gegenüber Widerwille? Selten hinterfrage ich meine Sympathie, meine Zuneigung. Warum weckt diese Grafik mein Interesse? Warum bringe ich jenem Menschen mein Wohlwollen entgegen? Ist es der Schwung einer Linie, der Klang einer Stimme, die Wahl der Farbtöne, des Sujets, der Worte?

Mit großem Bedauern las ich vom Tod eines der größten zeitgenössischen Wortmagier, der am vergangenen Donnerstag (24. November 2022) im Alter von 93 Jahren verstarb.
Aus seiner Feder stammt eines meiner liebsten Gedichte, eines der Gedichte, die mich seit dem ersten Lesen faszinieren... nun ist der Lyriker wohl doch mitgegangen mit dem Engel ~ 

YA


HANS MAGNUS ENZENSBERGER
11. November 1929 - 24. November 2022

Die Visite

Als ich aufsah von meinem leeren Blatt,
stand der Engel im Zimmer.

Ein ganz gemeiner Engel,
vermutlich unterste Charge.

Sie können sich gar nicht vorstellen,
sagte er, wie entbehrlich Sie sind.

Eine einzige unter fünfzehntausend Schattierungen
der Farbe Blau, sagte er,

fällt mehr ins Gewicht der Welt
als alles, was Sie tun oder lassen,

gar nicht zu reden vom Feldspat
und von der Großen Magellanschen Wolke.

Sogar der gemeine Froschlöffel, unscheinbar wie er ist,
hinterließe eine Lücke, Sie nicht.

Ich sah es an seinen hellen Augen, er hoffte
auf Widerspruch, auf ein langes Ringen.

Ich rührte mich nicht. Ich wartete,
bis er verschwunden war, schweigend.

 

Textquelle: planetlyrik.de