Ich kann nicht erklären warum, warum
mag ich jenes Gedicht, jenes Bild, jenen Song und das/den/die anderen
eben nicht oder sogar noch extremer, ich kann ein bestimmtes Lied
nicht ausstehen oder ein bestimmtes Gemälde. Man sagt, das was man
an sich selbst nicht mag, was man verleumdet oder versteckt und was
man an anderen Menschen entdeckt, das stößt auf Ablehnung, auf
Gegenwehr, auf Missmut. Prüfend gehe ich in mich: warum mag ich
diesen Menschen nicht? Warum gefällt mir diese Plastik nicht? Warum
empfinde ich dieser Lyrikerin gegenüber Widerwille? Selten
hinterfrage ich meine Sympathie, meine Zuneigung. Warum weckt diese
Grafik mein Interesse? Warum bringe ich jenem Menschen mein
Wohlwollen entgegen? Ist es der Schwung einer Linie, der Klang einer
Stimme, die Wahl der Farbtöne, des Sujets, der Worte?
Mit
großem Bedauern las ich vom Tod eines der größten zeitgenössischen
Wortmagier, der am vergangenen Donnerstag (24. November 2022) im
Alter von 93 Jahren verstarb.
Aus seiner Feder stammt eines
meiner liebsten Gedichte, eines der Gedichte, die mich seit dem
ersten Lesen faszinieren... nun ist der Lyriker wohl doch mitgegangen
mit dem Engel ~
YA
HANS MAGNUS ENZENSBERGER
11. November 1929 - 24. November 2022
Die Visite
Als ich aufsah von meinem
leeren Blatt,
stand der Engel im Zimmer.
Ein ganz gemeiner
Engel,
vermutlich unterste Charge.
Sie können sich gar
nicht vorstellen,
sagte er, wie entbehrlich Sie sind.
Eine
einzige unter fünfzehntausend Schattierungen
der Farbe Blau,
sagte er,
fällt mehr ins Gewicht der Welt
als alles, was
Sie tun oder lassen,
gar nicht zu reden vom Feldspat
und
von der Großen Magellanschen Wolke.
Sogar der gemeine
Froschlöffel, unscheinbar wie er ist,
hinterließe eine Lücke,
Sie nicht.
Ich sah es an seinen hellen Augen, er hoffte
auf
Widerspruch, auf ein langes Ringen.
Ich rührte mich nicht.
Ich wartete,
bis er verschwunden war, schweigend.
Textquelle: planetlyrik.de