Familie sitzt auf dem Sofa beim
Samstagsbrunch... da holt sie die kleine Schachtel mit den
sepiafarbenen Fotos heraus. Gesichter, Geschichten, die man nie
vorher gesehen, nie vorher gehört hat. Sie schlummerten viele Jahre
in irgendeiner Schublade, in irgendeinem Regal, auf irgendeinem
Schrank. Die vergangenen Jahrzehnte haben sich darüber gestapelt -
die Papiere, Briefe, Kinderröcke, -hosen, -jacken, das
Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel, bei dem einige Figuren fehlen aber
ein Würfel ist noch da, das nie zu Ende gelegte Puzzle, die
Rollschuhe, der Konfirmationsanzug, das Brautkleid, der Chapeau
Claque, die Mundharmonika. Die Gesichtszüge sind auf dem Foto im
Personalausweis und im Spiegel wiederzuerkennen... aber vielleicht
redet man sich das auch nur ein, sieht, was man sich wünscht. Weißt
du, ob Tante Erika glücklich war in ihrer Ehe – auf dem
Hochzeitsfoto sieht sie so schön aus. Warum haben wir nie wieder
etwas von Margarete gehört? Was ist aus Horst geworden, nachdem er
in den Westen abgehauen war? Ist das im Garten von Elfriede, da haben
wir immer Himbeeren genascht und sind auf die Bäume geklettert? Die
wenigen Erinnerungen werden wie Puzzleteilchen zusammengelegt. Das
Bild bleibt unvollständig. Es gibt kaum noch jemand, der auf die
Fragen antworten kann. Vieles bleibt Vermutung. Ein oft wiederholtes
Satzfragment ist „Das könnte …“
Welche Mühe das
Fotografieren damals machte, wie viel Geld die Apparate, die
Bildträger und das Entwickeln der Fotos kostete. Und doch ist da
dieses eine Foto, als die kleine Elisabeth lachend aus dem Garten
gelaufen kommt. Keine inszenierte Situation, wie es eher üblich war.
Wer hat das Foto gemacht von dem Mädchen, das so unbeschwert lacht?
Seither sind über 60 Jahre vergangen. Welche Vorstellungen hatte die
Erstklässlerin von ihrer Zukunft? Was würde die heute
lebenserfahrene Frau zu ihrem Kinder-Ich sagen? Was würde sie zu der
jungen Frau sagen, die in ihrem fein gearbeiteten knielangen Kleid
während ihrer Jugendweihefeier etwas nachdenklich in die Kamera
schaut? Worauf hat die erwachsene Frau gehofft, die uns mit
Kurzhaarfrisur neben ihrem Mann und ihrer Großmutter vom
Fotografenbild anschaut?
Ganz gleich, wie erfolgreich, liebevoll,
glücklich ein Leben uns auch erscheint, es gibt immer auch dunkle
Stunden, es gibt Brüche, Enttäuschungen, Verluste … „Hinter
jedem Menschen lauert nun mal eine Geschichte, die ihn zu dem gemacht
hat, was er heute ist.“ (Textquelle: Internet)
Yana Arlt
„Schreibe
eine traurige Geschichte und nutze dafür nur 3 Worte“
Yana
Arlt
13. Oktober 2024
Sie kommt
nicht
Die Verbindung gekappt
Dreißig verschwiegene
Jahre
Der leere Posteingang
MAYDAY ~ ungehört
verklungen
Komm nicht wieder
Warum nicht ich
Er
wusste nichts
Barfuß am Sterbebett
Zurück an
Absender
Keiner hat nachgefragt
Fäuste und
Lügen
Eingestaubte Verhörprotokolle entdeckt
Wäre ein
Junge
Scheiß auf Beileidskarten
Chronologie der
Verluste
Nur sie überlebte
Niemand war
da
Zurückgelassen auf Türschwellen