Er spricht über sie, als hätte er sie
gekannt. Mühelos erzählt er Anekdoten der jungen Brigitte aus ihrer
Schulzeit, als wären sie gemeinsam in eine Klasse gegangen. Er
mahnt, die frühen Gedichte als die Verse einer Adoleszenten zu
lesen. Somit also nicht überzuinterpretieren. Auch die Tagebücher
der Schriftstellerin sollte man nicht als Berichte verstehen, sie
waren wohl nicht zur Veröffentlichung gedacht und doch kreiert sich
ein Tagebuchschreiber in seinen Einträgen noch einmal neu/ anders,
bewertet tägliche Ereignisse sehr persönlich. Nach 2 Stunden Lesung
und Gespräch kam das Ende der Veranstaltung doch überraschend für
mich – so Vieles war noch nicht erzählt, noch nicht gezeigt
worden. 705 Seiten umfasst die Biographie der Brigitte Reimann, die
Carsten Gansel über einen langen Zeitraum recherchierte und schrieb.
Im vergangenen Jahr, dem Jahr des 90. Geburtstages und 50. Todestages
der Schriftstellerin erschien die Publikation. Fast auf den Tag genau
5 Monate vor ihrem 40. Geburtstag erlag Brigitte Reimann einer
Krebserkrankung.
Ich mag die Fragen nicht: Was hätte sie noch
alles schreiben können? Wie stünde sie zu dieser und jener
gesellschaftlichen und/ oder politischen Entwicklung der vergangenen
Jahre? etc. Ein Mensch wird geboren. Ein Mensch stirbt. Wie er
zwischen diesen beiden unausweichlichen Ereignissen lebt, wie er die
Zeit gestaltet und nutzt, das ist für mich die spannendere Frage.
Über jeden einzelnen Punkt einer Biographie könnte man bändeweise
schreiben, eben auch über: was wäre, wenn … in einem beliebigen
Moment. Die Entscheidung für eine Antwort in der Klassenarbeit, die
womöglich Auswirkungen auf die Zensur und damit auf die Zeugnisnote
hat, die wiederum auf die Möglichkeiten zu studieren oder den
Ausbildungsplatz zu bekommen oder auch nicht, um dann einen Beruf zu
ergreifen, Begegnungen mit Kommilitonen, Kollegen zu haben, aus denen
Freundschaften, Enttäuschungen, Lebenspartnerschaften, Elternschaft
erwachsen können. Ja, diese eine Antwort in der Klassenarbeit. Diese
eine Entscheidung. Ich maße mir kein Urteil an über die junge Frau,
die als Teenager Gedichte und Theaterstücke schrieb und immer
wusste, dass sie Schriftstellerin werden wollte. Und ich bin
erleichtert, geradezu glücklich, dass es Carsten Gansel vermag,
genau solch eine Beurteilung zu vermeiden. Er zitiert, nennt Fakten
und Daten … in den Köpfen der Zuhörer/ Leser entsteht daraus ein
Bild.
Was für mich die erstaunlichste Erfahrung dieses Abends
ist: vermutlich keiner, der Anwesenden in den Zuschauerreihen oder
auf im Podium kennt/kannte Brigitte Reimann persönlich und doch
scheint es, als stünde sie hinter der Bühne und man träfe sich
nach der Veranstaltung auf ein Bier im Cafe Auszeit und die
90-jährige Brigitte würde uns erzählen, wie das war, als der junge
Mann bei ihr anrief und einen Termin zu einem Interview vereinbaren
wollte und wie er dann mit alten Klassenbüchern, einer Schachtel
vergilbter Fotos, Stapeln von ihren Manuskripten und einem Laptop vor
ihrer Tür stand und ihr Löcher in den Bauch fragte, wo sie sich
doch selbst an einige Gesichter gar nicht mehr erinnern konnte und
auch nicht an die Begebenheiten, von denen andere noch detailliert
berichten konnten. Die Seniorin staunt, wie viele Zeitdokumente noch
existieren aber eigentlich würde sie statt über die alten Zeiten zu
reden lieber über ihr neues Buch, einen Gedichtband sprechen. Ja,
sie erinnert sich, dass sie als 15 Jährige Verse schrieb und nun,
ein dreiviertel Jahrhundert später, hat sie die Poesie für ihr
literarisches Schaffen wiederentdeckt. Sie drückt dem 22 Jahre jüngerem Carsten das
schmale Manuskript in die Hand: „Lesen Sie!“ und stellt zwei
Gläser auf den Tisch, gießt in jedes einen Schluck Wodka hinein,
zündet sich eine Zigarrette an und schaut ihn herausfordernd an.
Yana Arlt
„Eifersucht als willkommener Vorwand für die Wut, die mich würgte, warum, das hätte ich damals nicht artikulieren können, ahnte nur dunkel, was ich heute sehe, aber traurig, nicht mehr wütend: dein Interesse für meine Arbeit, das unverbindlich ist wie für alles, was du liest, hörst, weißt, worüber du redest oder streitest (Streit als rhetorische Übung), über Neutra und Städtebau, über Genetik, Feldtheorie, Sartre oder Garaudy, über die Heilige Familie, Orbitalstationen, Kibbuzim, einen Militärputsch in Bolivien, Hypnopädie und soziologische Forschung . . . immer informiert, immer kennerisch, aber unfähig oder einfach nicht gewillt, dich zu engagieren . . . Du nimmst eine Welt in dich auf, und die Welt geht durch dich hindurch und ist nichts als ein Bonmot wert, und was immer geschieht, scheint nur zu geschehen, um dir Gelegenheit zu geben für einen Kommentar [...]“
Brigitte Reimann
„Franziska
Linkerhand“
Verlag Neues Leben, Berlin 1974