Montag, 24. Juni 2024

Inspirieren lassen ~ Zehen stoßen

 

Es ist der 24. Juni, als sie in der Schlafstube über den Karton mit den Weihnachtsengeln stolpert. Er steht dort schon ein halbes Jahr. Niemand hat ihn auf den Dachboden oder in den Keller gebracht. Kurz überlegt sie, ob sie ihn auf das Regal stellt, den Engeln ein weiteres halbes Jahr im Schlafzimmer Unterschlupf gewährt. Zwischen dem 24. Juni und dem 24. Dezember liegen noch ein Sommer, für den wieder einmal Hitzewellen vorausgesagt werden, eine Reise, wie sie weit lange keine mehr gemacht hatte, ein Herbst, der an Früchten arm sein wird, Geburtstage, Hochzeitstage, Trauertage, Texte ~ immer neue Texte und Bücher, Bücher, die halbgelesen, halbgeschrieben bleiben oder endlich vollendet werden. Die Zehen schmerzen. Es ist ein kleiner Karton und neben den Engeln sind ein paar Sternchen und Glöckchen darin. Trotzdem schmerzen ihr die Zehen, weil sie doch barfuß durch die Wohnung läuft und so gern den Boden spürt. Die Holzdielen, das PVC, die Fliesen, den Teppich, den Läufer, die winzige Pfütze unter dem Abwaschbecken. Die Füße erinnern sich an den Schnee auf dem Hof, auf dem jetzt Splitt auf den quadratischen Pflastersteinen liegt, den Schnee auf den Gartenwegen, die jetzt frisch gemulcht sind, den Schnee auf dem Wäscheplatz, der jetzt frisch gemäht ist. Die Füße erinnern sich an die Plane, auf der sie vor Jahren das Labyrinth malte, an die Fußbodenfliesen im Atelier, an die Steinplatten der früheren Caféterrasse, an das Eis auf dem See und den warmen Ufersand ~ Die Erinnerung steigt von den Füßen hinauf in den Bauch, den Magen, das Herz, auf die Zunge, die Lippen, in das Hirn. Der ganze Körper ist ein einziger Speicherort – viel mehr GB als eine Speicherkarte, ein USB-Stick und ja, du meine Güte, sie hat noch CDs und sogar Disketten irgendwo liegen. Auch die Engel sind Speicherorte, die Sternchen, die Glöckchen, die Kapseln des Mohns, der Akelei und der Jungfer im Grünen, der Komposthaufen, die Regenwassertonne, die in Öl eingelegten Johanniskrautblüten, das Notatebuch, zwischen dessen Seiten das fünfblättrige Kleeblatt vom Tag des Junivollmonds trocknet. Neben ihrem Bett liegt eine Orakelkarte vom Fest der Sommersonnenwende. Und nun öffnet sie behutsam die kleinen Kästchen, wickelt aus der Luftpolsterfolie den ersten Engel.

Yana Arlt


Fragen drängen sich auf und wollen endlich gehört und beantwortet werden:
Wer bin ich?
Wer gehört zu mir?
Wo komme ich her?
Wo gehe ich hin?
Was trägt mich, was nährt mich?
Jetzt sollst du deinen Schatten begegnen und dafür gegebenenfalls Hilfe in Anspruch nehmen.
Nur wer dem Dunkel begegnet, wird das Blühen im Frühling erleben.


Katharina Waibl „wildes weiber wissen ~ Das wundersame Kräuterjahr“