Da liegen sie vor mir, die Juni-, Juli-
und Augusttexte, die den Sommerband der „Gesammelten
Jahreszeitentexte“ ergeben sollen. Also: anfangen. Lesen. Prüfen.
Vergleichen. Korrigieren. Es ist merkwürdig, wenn jemand schreibt:
„Es war mal wieder ein Genuss, deine Texte zu lesen und
einzurichten.“ Worte des Verlegers! Und ich kann sie gar nicht
annehmen, kann sie gar nicht glauben. In einer Zeit, in der Menschen
hauptsächlich Unterhaltung und Amusement suchen, Ablenkung von den
alltäglichen Anforderungen und Krisenmeldungen, da macht sich
Alexander Kiensch daran, meine Texte zu lesen und daraus ein Buch zu
machen. Ein Buch! Überlege, wann hast du dir zuletzt ein Buch
gekauft? Überlege, wann hast du dir zuletzt einen Lyrikband gekauft?
Was sind die Genre, in denen sich überhaupt noch Bücher verkaufen?
Reiseführer? Wohl nicht, denn alle notwendigen Infos für eine Reise
samt Unterkunft und Verpflegung holt man sich im Internet, bucht die
Fahrten, Flüge, Restaurantplätze online. Kochbücher?
Unwahrscheinlich, wenn man auch verschiedenste Variationen eines
Rezepts im Internet findet oder eventuell Anleitungen für ein
Gericht als Video ansehen kann. Auch „Lebensratgeber“ finden sich
im world-wide-web hundertfach – als Film, als Podcast, als Kurs
oder Vortrag. Um das Leben meistern zu lernen, muss man nicht das
Haus verlassen. Auch gibt es diverse Telefonberatungen. Ein Buch ist
hierfür nicht notwendig. Auch Nachschlagewerke sind dank
umfangreicher digitaler Rechtschreibprüfanbieter und Lexika nur noch
Staubfänger in Regalen. Man braucht nicht einmal mehr das SparBUCH.
Alle gewünschten Transaktionen und Auskünfte laufen online.
Vielleicht funktionieren noch Bilderbücher oder Märchenbücher.
Möglicherweise auch noch der ein oder andere Roman. Gedichtbände
waren wohl zu keiner Zeit seit 1450 ein Verkaufsschlager. Eine
wundervolle Szene gibt es hierzu im Jane-Campion-Film „Bright
Star“, in der die junge Fanny Brawne ihre kleine Schwester und
ihren Bruder in eine Buchhandlung schickt, um dort nach dem Versepos
„Endymion“ des Dichters John Keats zu fragen. Fanny hatte Keats
kurz vorher kennengelernt und wollte nun etwas von seinem
dichterischen Werk erfahren. Nun ja, Begeisterung sieht anders aus.
Der schwere Zugang zu Lyrik zeigt sich auch im Verhalten der Leser,
mithin der Käufer. Die geringe Auflage liegt noch fast unangetastet
als Stapel in der Buchhandlung, der Buchhändler ist „not amused“.
Jane Campion schreibt: „Fasziniert kaufte ich
mir Keats’ Gedichte und Gesammelte Briefe und begann zu lesen.
Beinahe unmerklich ergriff ein Gedanke von mir Besitz: Sollte ich
seine Geschichte in einem Film erzählen? Doch sofort verwarf ich ihn
wieder. Wer las heutzutage überhaupt noch Gedichte? Zusätzlich
entmutigte mich die Erkenntnis, daß ich die Verse nicht richtig
verstand oder mir – wie bei Endymion oder Hyperion – die
klassischen Bezüge fehlten. Wie sollte ich einen Film über Keats
machen, wenn ich sein Werk nicht begriff? […] Eines Tages blieb
eine schwangere Stute bei mir stehen, als die anderen Pferde schon
davongetrabt waren. Mit der ganzen Behutsamkeit, die ein Huf
gestattet, spreizte sie die Öffnung meiner Tasche und spähte
hinein. Ich setzte ich neben die Stute und begann, mir Gedichte von
Keats vorzulesen. Ich las die Ode an Psyche, die so lebhaft die
Sinnlichkeit der Poesie beschreibt, und die Ode an den Müßiggang,
in der Keats den verträumten Zustand des Sich-Treiben-Lassens
besingt, dem ich mich selbst gerade hingab.
Reif war die Stunde! Um
die Augen floß
Die Wolke seliger Muße schlummertrunken,
Mein
Puls schlug sacht . . .
Mitunter hatte ich das Gefühl, den Sinn
eines Gedichts erfaßt zu haben, nur um binnen kurzem zu erkennen,
daß ich es doch mißverstanden hatte. Dann kam ich mir töricht vor.
Aber ich war bereits in den verführerischen Sog der Worte, des
Rhythmus, der Atmosphäre und Intimität geraten. Es gefiel mir, wie
die Worte, ihr Klang und ihr Sinn sich gleich einem Kranz aus
Gänseblümchen aneinanderreihten, verbanden, dahinströmten,
zusammenfanden, wie Bäche sich mit Flüssen vereinigen. Sie wurden
zu einem leisen Raunen, mit dem Keats mich mir selbst beschrieb und
das dabei stets eine köstliche sinnliche Präsenz bewahrte, die mich
im Innersten berührte.“ Textquelle: „Keats, John / Bright Star /
Die Geschichte von John Keats und Fanny Brawne“ / Mit einem
Vorwort von Jane Campion und zahlreichen farbigen Fotos aus dem Film,
Insel Verlag
Dieses Verfangen in die Denk-, Empfindungs- und
Lebenswelt eines Dichters, dieses „im Innersten berührt“ werden
– dazu muss man bereit sein als Leser. Wie konnte der Dichter John
Keats, der erst 25-jährig starb so sehr missverstanden und ignoriert
oder bestenfalls durch Literaturkritiker und Kollegen angefeindet und verschmäht
werden? Bis zum Ende des 20. Jahrhundert schlummerte die Lyrik John
Keats' vor sich hin. Es ist auch Menschen wie Mirko
Bonné, der Keats übersetzte, zu verdanken, dass die Gedichte
bekannt werden. Eben Menschen, die sich begeistern lassen von Versen
und sich für sie einsetzen, die die Zeilen aus den Schubladen heraus
holen, die nicht müde werden, sich mit Dichtung und DichterInnen zu
beschäftigen. Ein Hoch auf all diese Unermüdlichen – damals,
heute und zukünftig! Doch nun muss ich zurück zu den Sommertexten,
die gelesen, geprüft und korrigiert werden müssen, damit sie am 7.
Juli 2024 auf dem Buchmarkt erscheinen können.
Yana Arlt