Montag, 13. Mai 2024

Inspirieren lassen ~ die entmutigende Erkenntnis, dass ich die Gedichte nicht richtig verstand

 

Da liegen sie vor mir, die Juni-, Juli- und Augusttexte, die den Sommerband der „Gesammelten Jahreszeitentexte“ ergeben sollen. Also: anfangen. Lesen. Prüfen. Vergleichen. Korrigieren. Es ist merkwürdig, wenn jemand schreibt: „Es war mal wieder ein Genuss, deine Texte zu lesen und einzurichten.“ Worte des Verlegers! Und ich kann sie gar nicht annehmen, kann sie gar nicht glauben. In einer Zeit, in der Menschen hauptsächlich Unterhaltung und Amusement suchen, Ablenkung von den alltäglichen Anforderungen und Krisenmeldungen, da macht sich Alexander Kiensch daran, meine Texte zu lesen und daraus ein Buch zu machen. Ein Buch! Überlege, wann hast du dir zuletzt ein Buch gekauft? Überlege, wann hast du dir zuletzt einen Lyrikband gekauft? Was sind die Genre, in denen sich überhaupt noch Bücher verkaufen? Reiseführer? Wohl nicht, denn alle notwendigen Infos für eine Reise samt Unterkunft und Verpflegung holt man sich im Internet, bucht die Fahrten, Flüge, Restaurantplätze online. Kochbücher? Unwahrscheinlich, wenn man auch verschiedenste Variationen eines Rezepts im Internet findet oder eventuell Anleitungen für ein Gericht als Video ansehen kann. Auch „Lebensratgeber“ finden sich im world-wide-web hundertfach – als Film, als Podcast, als Kurs oder Vortrag. Um das Leben meistern zu lernen, muss man nicht das Haus verlassen. Auch gibt es diverse Telefonberatungen. Ein Buch ist hierfür nicht notwendig. Auch Nachschlagewerke sind dank umfangreicher digitaler Rechtschreibprüfanbieter und Lexika nur noch Staubfänger in Regalen. Man braucht nicht einmal mehr das SparBUCH. Alle gewünschten Transaktionen und Auskünfte laufen online. Vielleicht funktionieren noch Bilderbücher oder Märchenbücher. Möglicherweise auch noch der ein oder andere Roman. Gedichtbände waren wohl zu keiner Zeit seit 1450 ein Verkaufsschlager. Eine wundervolle Szene gibt es hierzu im Jane-Campion-Film „Bright Star“, in der die junge Fanny Brawne ihre kleine Schwester und ihren Bruder in eine Buchhandlung schickt, um dort nach dem Versepos „Endymion“ des Dichters John Keats zu fragen. Fanny hatte Keats kurz vorher kennengelernt und wollte nun etwas von seinem dichterischen Werk erfahren. Nun ja, Begeisterung sieht anders aus. Der schwere Zugang zu Lyrik zeigt sich auch im Verhalten der Leser, mithin der Käufer. Die geringe Auflage liegt noch fast unangetastet als Stapel in der Buchhandlung, der Buchhändler ist „not amused“. Jane Campion schreibt: „Fasziniert kaufte ich mir Keats’ Gedichte und Gesammelte Briefe und begann zu lesen. Beinahe unmerklich ergriff ein Gedanke von mir Besitz: Sollte ich seine Geschichte in einem Film erzählen? Doch sofort verwarf ich ihn wieder. Wer las heutzutage überhaupt noch Gedichte? Zusätzlich entmutigte mich die Erkenntnis, daß ich die Verse nicht richtig verstand oder mir – wie bei Endymion oder Hyperion – die klassischen Bezüge fehlten. Wie sollte ich einen Film über Keats machen, wenn ich sein Werk nicht begriff? […] Eines Tages blieb eine schwangere Stute bei mir stehen, als die anderen Pferde schon davongetrabt waren. Mit der ganzen Behutsamkeit, die ein Huf gestattet, spreizte sie die Öffnung meiner Tasche und spähte hinein. Ich setzte ich neben die Stute und begann, mir Gedichte von Keats vorzulesen. Ich las die Ode an Psyche, die so lebhaft die Sinnlichkeit der Poesie beschreibt, und die Ode an den Müßiggang, in der Keats den verträumten Zustand des Sich-Treiben-Lassens besingt, dem ich mich selbst gerade hingab.
Reif war die Stunde! Um die Augen floß
Die Wolke seliger Muße schlummertrunken,
Mein Puls schlug sacht . . .

Mitunter hatte ich das Gefühl, den Sinn eines Gedichts erfaßt zu haben, nur um binnen kurzem zu erkennen, daß ich es doch mißverstanden hatte. Dann kam ich mir töricht vor. Aber ich war bereits in den verführerischen Sog der Worte, des Rhythmus, der Atmosphäre und Intimität geraten. Es gefiel mir, wie die Worte, ihr Klang und ihr Sinn sich gleich einem Kranz aus Gänseblümchen aneinanderreihten, verbanden, dahinströmten, zusammenfanden, wie Bäche sich mit Flüssen vereinigen. Sie wurden zu einem leisen Raunen, mit dem Keats mich mir selbst beschrieb und das dabei stets eine köstliche sinnliche Präsenz bewahrte, die mich im Innersten berührte.“
Textquelle: „Keats, John / Bright Star / Die Geschichte von John Keats und Fanny Brawne“ / Mit einem Vorwort von Jane Campion und zahlreichen farbigen Fotos aus dem Film, Insel Verlag
Dieses Verfangen in die Denk-, Empfindungs- und Lebenswelt eines Dichters, dieses „im Innersten berührt“ werden – dazu muss man bereit sein als Leser. Wie konnte der Dichter John Keats, der erst 25-jährig starb so sehr missverstanden und ignoriert oder bestenfalls durch Literaturkritiker und Kollegen angefeindet und verschmäht werden? Bis zum Ende des 20. Jahrhundert schlummerte die Lyrik John Keats' vor sich hin. Es ist auch Menschen wie Mirko Bonné, der Keats übersetzte, zu verdanken, dass die Gedichte bekannt werden. Eben Menschen, die sich begeistern lassen von Versen und sich für sie einsetzen, die die Zeilen aus den Schubladen heraus holen, die nicht müde werden, sich mit Dichtung und DichterInnen zu beschäftigen. Ein Hoch auf all diese Unermüdlichen – damals, heute und zukünftig! Doch nun muss ich zurück zu den Sommertexten, die gelesen, geprüft und korrigiert werden müssen, damit sie am 7. Juli 2024 auf dem Buchmarkt erscheinen können.

Yana Arlt