Dienstag, 9. Januar 2024

Inspirieren lassen ~ in Tränen ausbrechen

Liest du Gedichte? In welchen Situationen liest du Gedichte? Welche Gedichte liest du? Hast du Präferenzen für lyrische Formen oder für Themen?

Reime spielen hier eine wichtige Rolle und damit bekommt Lyrik eine Relevanz in der Unterstützung des Lese- und Schreiblernprozesses. Kinder erleben zudem mit Gedichten, dass literarische Texte vieldeutig sind und man unterschiedliche Lesarten entdecken und besprechen kann.“ Textquelle: www.gew.de

Hier geht es zu einem Beitrag von Bob Blume unter dem Titel „BILDUNG: Warum Lyrik? 100 Gründe“. Ein Auszug gefällig?
2. Um zu verstehen, was ein einzelnes Wort bedeuten kann
9. Um die Musik der Sprache wahrzunehmen
14. Um zu verstehen, dass es oft mehrere Ebenen gibt als die erste scheinbare
29. Um Worte zu finden, wenn man keine Worte mehr hat
30. Um ein Repertoire zu haben, wenn man jemandem mehr sagen will, als man sagen kann
42. Um sich darüber zu freuen, was mit einem passiert, wenn man plötzlich versteht
65. Um zu sehen, wie aus Worten Bilder werden
82. Um zu sehen, was mit Menschen passiert, die nur die Sprache haben
85. Um miteinander ins Gespräch zu kommen

Gut, dann lasst uns doch jetzt mal zu der Frage ins Gespräch kommen, die die Süddeutsche Zeitung vor einigen Tagen aufwarf:
„Sollte jeder Mensch mindestens einmal im Leben über einem Gedicht in Tränen ausgebrochen sein?“
Mir fallen da gleich mehrere ein, die mich tief anrührten und bei denen mir die Zähren in Rinnsalen über die Wange plätscherten. Hätte ich nur eine Stunde später oder im Sessel des NLZ statt an einem Tisch im Cafe, mit Schneefall vor dem Fenster oder vor dem Öffnen deines Briefes oder nach dem Telefonat die Verse gelesen … vielleicht wäre ich distanzierter gewesen, analytischer. Vielleicht hätte es mich nicht emotional so gepackt, vielleicht hätte ich die Poesie nicht „so persönlich genommen“.
Gedichte zu lesen, zu spüren, funktioniert nur, wenn man sie persönlich nimmt. Wenn man die Worte ganz nah an sich rankommen lässt. Und das von jemandem, der so seine ganz eigenen Umgang mit Nähe hat. Bei vorgelesenen Gedichten – z.B. auf der Internetseite „Lyrikline / listen to the poet“ oder 10:50 Uhr „Das Gedicht“ auf mdr kultur – spielt für die Verbindung zur vorgetragenen Poesie auch die Stimme des Lesenden und die Stimmung, in der man sich selbst befindet eine Rolle. So mancher Lyriker/ manche Lyrikerin musste sich auch den wohlmeinenden Rat anhören: Lassen Sie doch besser einen Schauspieler vortragen.
All diese Interpretationen hat man nicht, wenn man die Gedichte selbst liest, wenn man die abstrakten Schriftzeichen – ob lateinisch, kyrillisch, arabisch... - durch seine Hirnwindungen laufen lässt, wo sich Jamben, Trochäen, Reime, Metaphern etc. zu einem Gemälde oder zu einem Film umwandeln. Nicht zu vergessen, dass Gedichte auch Olfaktorisches, Haptisches, Akustisches, Visuelles und Gustatorisches vermitteln können. Ich rieche und schmecke sie geradezu, wenn mir Herr Ribbeck zuraunt: „Willst de ne Birn?“ (Theodor Fontane) Ich atme auf und spüre die warme Herbstsonne bei den Versen „Ich mach ein Lied aus Stille und aus Septemberlicht“ (Eva Strittmatter), mir läuft ein Schauer über den Rücken bei den Reimen „Dunkel folgt mir auf dem Fuß, mauert seine Wand aus Ruß“ (Mina Witkojc) und ich schwelge in „Carl Philipp Emanuel Bach ist an der Reihe. Er begleitet uns zu Honig auf Toast und schwarzem Kaffee.“ (Rainer Malkowski)
Einfach dass es sie gibt, die Dichter und Dichterinnen, die Dichtung, macht mich glücklich. Dass es immer wieder einige Schreibende gibt, die die Magie der Sprache erwecken können, die sich einem jahrelangen/ lebenslangen Lernprozess unterziehen und akzeptieren, dass sie eben jenen Zauber nie ganz beherrschen, nie ganz ausreizen, nie ganz ergründen können. Was sind das für besondere Menschen, die Poeten! Was sind ihre Gedichte für Kostbarkeiten!

Yana Arlt