Kunst verändert nicht die Welt. Kunst
kann uns den Blick in die Welt schärfen und uns die Dinge darin
auffächern. Dabei spielt es keine Rolle, ob es ein Gemälde von
Frida Kahlo ist oder ein Musikstück von Claude Debussy oder ein
Gedicht von Rainer Malkowski. Ich würde meinen, dass die
KünstlerInnen nicht unbedingt diese Wirkung beabsichtigen,
möglicherweise geht es ihnen in erster Linie darum, durch ihr
Schaffen für sich selbst etwas besser verstehen zu können.
Kunst
und Leid scheinen zusammenzugehören. Zumindest wird das auch oft
behauptet. Könnte ein ausgeglichener, zufriedener, glücklicher
Mensch „Das Weltgericht“ (Hieronymus Bosch) malen, „Los
Caprichos“ (Francisco Goya) zeichnen oder die „Schicksalssinfonie“
(Ludwig van Beethoven) komponieren oder „Die Wellen“ (Virginia
Woolf) schreiben? Hätte Frida Kahlo ohne den Unfall, bei dem ihr
Körper lebenslang geschädigt wurde, sie zu wochenlanger Bettruhe
zwang, begonnen zu malen? Wenn Claude Debussy bei den
Klavierwettbewerben nicht gescheitert wäre, so dass für ihn die
Laufbahn eines Klaviervirtuosen verwehrt blieb, hätte er überhaupt
begonnen, selbst zu komponieren? Hätte der Werbemanager Rainer
Malkowski mit seinem ersten Gedichtband „Was für ein Morgen“
nicht ein erfolgreiches Debut veröffentlicht, wäre er in den
Fahrwassern der Werbung weitergetrieben und welchen Einfluss hatte
seine langjährige schwere Krankheit, die für ihn zunehmende
Sehschwäche/ Blindheit bedeutete, auf seine Lyrik? Von Rainer
Malkowski stammen die Zeilen:
„Unsere Lieblingsgedichte sind wahrscheinlich jene, bei denen wir
am deutlichsten fühlen, daß sie uns sehend machen.“ Da haben wir
es wieder, das Verstehenwollen. Gedichte schreiben, um sich der Welt
bewusster zu werden, Hintergründiges und tief Verborgenes aufspüren
und sichtbar machen. Verstehen wir überhaupt, was für großartige
Geschenke die Werke von KünstlerInnen sind? Können wir die Wirkung
ihrer Bilder, Filme, Lieder, Gedichte, Romane, Choreographien etc.
auf uns ermessen? Kunstwerke betrachten, hören, lesen, ist
Kommunikation. Ein Austausch über Generationen, Grenzen und
Gedankenuniversen hinweg. Dinge wahrnehmen, weil sie mir ein anderer
zeigt. Durch seinen Blick darauf, erkennen, verstehen, in Frage
stellen. Auch die eigene Meinung, die eigenen Entscheidungen, das
eigene Verhalten. Marina Abramovic konfrontiert in ihren
Performances, z.B. „Rhythm
O“ die Menschen mit ihren Ängsten, Vorurteilen,
Unzulänglichkeiten, Bedürfnissen/ Begierden. Kunst verändert nicht
die Welt.
Wir erkennen nur ein Stückchen, das wir allein nicht
entdeckt oder erreicht hätten.
Yana Arlt
Rainer
Malkowski, gest. 1. September 2003
Moralische
Physik
Ein
Sommertag, lange her.
Zwischen den Pappeln steif und still
geht
ein Junge mit einer Gießkanne
über den Friedhof.
Große
Ferien.
Die Spielkameraden verreist
oder untergetaucht im
schrillen Lärm
des Freibads.
Niemand sieht ihn,
während
er mürrisch
die Kanne auf dem Grabhügel leert.
Und was nützt
es dem Toten,
der längst
im Himmel ist?
Sekunden, noch
ungetröstet,
vor der kindlichen Entwicklung
einer moralischen
Physik.
Etwa so:
alle guten Taten
werden aufbewahrt von
der Luft,
strömen schließlich
wenn die Luft reich genug
ist,
bessernd
in die Menschen zurück.
Ein Sommertag,
lange her.
Aber schon damals vor allem
zur eigenen
Erleichterung
fruchtbar
die Berührung durch den Geist
der
Utopie.
aus:
„Rainer Malkowski / Die Gedichte“ Vierte Auflage 2021 Wallstein Verlag
In
den kommenden Tagen stellen wir hier auf dem Blog die DichterInnen
vor, die beim 11. Lausitzer Lyrikfestival vom 1. bis 3. September
2023 in der Gartenstadt Marga zu erleben sind.
Einer meiner neuesten Texte ist bereits seit heute auf dem NLZ-Blog zu lesen ~