Montag, 21. August 2023

Inspirieren lassen ~ 639 Jahre

 

Was ist wohl an einem „a“ Besonderes? „a“ ist der erste Buchstabe im Alphabeth. Am Kammerton „a“ richten sich Melodiebögen aus. Eine Terz darüber und eine Quarte darunter erklingt das „d“. Die bestimmten Artikel beginnen in der deutschen Sprache mit „d“ - der, die, das. Die Worte Dank, Dasein, Dach, Dusche, Decke, Desinteresse, Diele, Demut, Dreck, Ding, Damals, drüben, durch, denken, dulden, dichten, drängen … beginnen mit einem „d“. Warum ist „der lange ton zu senftenberg“ im vergangenen Orgelkonzert am Freitagabend ein „d“? Als er erklingt, bemerken nicht alle Konzertbesucher, dass die Musik bereits begonnen hat. Die Gespräche werden weiter geführt, letzte Besucher betreten die Kirche und nehmen ihren Sitzplatz ein, man winkt und nickt einander zu. Ich habe die Augen geschlossen. Der Schweiß rinnt mir an diesem heißen Augusttag über die Stirn, den Hals, den Rücken herab. Ich versuche die Rinnsale als Berührung zu empfinden. Normalerweise sind Kirchenräume sehr viel kühler als andere Räume und der Körper beruhigt sich in der Unbewegtheit des Sitzens. Ein paar Mal mit dem Programmzettel zu wedeln, bringt Abkühlung. Dieser extravagante Programmzettel mit den Zeichnungen, Zitaten, Versen... eine Gesamtgrafik. Die ersten Töne von der Eule-Orgel gehen fast unter in der allgemeinen Betriebsamkeit. Zarte Töne. Kaum eine Melodie. Keine bekannte Melodie. Ah, ein Stück von Mendelsohn-Bartholdy; eine Passage von Max Reger; unverkennbar Johann Sebastian Bach ~ das alles kann man nicht sagen. Es sind Fingertänze auf Tasten, ausgespuckt von ein paar der 2.222 Orgelpfeifen. Ein Spiel, ein Hüpfspiel, aufsteigende Luftblasen beim Tauchen im See. Das Wasser des Senftenberger Sees hat an verschiedenen Strandbereichen unterschiedliche Farben. In der frühen Morgenstunde schwimme ich an und unter der Oberfläche, überlasse mich diesem Element, die Wirbel, die durch die Arm- und Handbewegungen am Körper vorbei, unter dem Körper entlang entstehen, sind Berührungen. Das Eintauchen der Glieder in das Wasser nimmt Luft mit unter die Oberfläche, die löst sich mit Drängeln als schillernde Bläschen. Luftperlen. Schweißperlen. Es ist ja auch nur Luft, die durch die Orgelpfeifen in den Kirchenraum perlt. Verstehe einer, wie sich jemand so etwas hat einfallen lassen. Metallröhren nebeneinander gereiht, Tasten, die durch Fingerspitzendruck Luftströme durch diese und jene Pfeife leiten und diese Luftstöße sind Klänge, die sich brechen an den Steinen, aus denen das Gebäude besteht. Steine als Gratzellengewölbe, als Säule, als Fußboden(mosaik). Verstehe einer, wie sich jemand so etwas hat einfallen lassen. Lehm zu Ziegeln zu brennen und sie aneinander zu fügen. So klingen sie gemeinsam Luft Erde Wasser Feuer. Die 5 Minuten, die der Ton „d“ nachklingt, in denen er ganz allein im Raum schwingt, ist fast magisch. Ja, wir alle hier, die schweigend sitzen und nachlauschen, wir waren Ohrenzeuge von etwas Einmaligem. Nie wieder wird diese Melodie erklingen. Sie steht auf keinem Notenblatt, sie ist auf keinem Tonträger gespeichert. Dieser unbestimmte Klang … er ist nur noch einmal da, als ich unter die Oberfläche des Sees tauche und den Luftperlen nachschaue.

PS: Auf dem Heimweg vom Konzert finde ich 4 vierblättrige Kleeblätter. Der vierte Buchstabe im Alphabeth ist das „d“. 4 Töne - Quarte. 4 x 4 Blätter sind 16 – mithin 2 Oktaven ~
Nicht mehr und nicht weniger.

Yana Arlt


was heißt u n e n d l i c h für uns sind 639 jahre bereits unendlich 10 generationen
vor 639 jahren hätte der ton im jahre 1361 begonnen was ist seit dem alles geschehen
die borchardi-klosterkirche (basilika) in halberstadt wurde im 12. jh. erbaut und hat diese
lange zeit bis heute überlebt sie ist der k l a n g r a u m für das john-cage-kunstprojekt
ww: für mich sinnbild für den langen atem gottes un-- un-- un-- un-----endlich


Wilfried Wilke


vom Programmzettel „sinfonische impressionen von und mit wilfried wilke (ww) über das längste musikstück der welt einer komposition von john cage (1912-1992) für über 639 jahre dem längsten orgelton von halberstadt