Donnerstag, 1. April 2021

Lieblingsgedicht ~ Wislawa Szymborska, Mascha Kaleko

Yana Arlt "Eines meiner Lieblingsgedichte ist ~"

LOB DER SCHWESTER
Wisława Szymborska
Übertragen aus dem Polnischen von Karl Dedecius

Meine Schwester schreibt keine Gedichte
und wird wohl nicht plötzlich Gedichte zu schreiben beginnen.
Sie hat’s von der Mutter, die keine Gedichte schrieb,
und auch vom Vater, der keine Gedichte schrieb.
Unter dem Dach meiner Schwester fühl ich mich sicher:
Der Mann meiner Schwester schriebe um nichts in der Welt Gedichte.
Und klingt es auch wie ein Gedicht von A. Mazedonski,
niemand von meinen Verwandten schreibt Gedichte.

In den Schubladen meiner Schwester gibt’s keine alten Gedichte,
in ihrer Handtasche keine frisch geschriebnen Gedichte.
Und lädt meine Schwester ein zum Mittag,
dann nicht um Gedichte vorzulesen, das weiß ich.
Ihre Suppen sind vorzüglich ohne Hintergedanken,
und der Kaffee tropft niemals auf Manuskripte.

In vielen Familien schreibt niemand Gedichte,
und wenn – dann kaum eine Person allein.
Manchmal fließt Poesie mit Geschlechterkaskaden daher,
was in Gefühlen gegenseitig missliche Wirbel verursacht.

Meine Schwester pflegt eine nicht üble mündliche Prosa,
die Urlaubskarten sind ihre ganze Schriftstellerei,
darin sie jedes Jahr dasselbe verspricht:
sie werde nach ihrer Rückkehr
alles, alles,
alles erzählen.

Foto: privat

 

 

 

 

 

 

Renate Hensel "Eines meiner Lieblingsgedichte ist ~"

BLATT IM WIND
Mascha Kaleko

Lass mich das Pochen deines Herzens spüren,
dass ich nicht höre, wie das meine schlägt.
Tu vor mir auf all die geheimen Türen,
da sich ein Riegel vor die meinen legt.

Ich kann es, Liebster, nicht im Wort bekennen,
und meine Tränen bleiben ungeweint,
die Macht, die uns von Anbeginn vereint,
wird uns am letzten aller Tage trennen.

All meinen Schmerz ertränke ich in Küssen.
All mein Geheimnis trag ich wie ein Kind.
Ich bin ein Blatt, zu früh vom Baum gerissen.
Ob alle Liebenden so einsam sind?

Foto: Renate Hensel
Ich bin ein Blatt, zu früh vom Baum gerissen