Yana Arlt "Eines meiner Lieblingsgedichte ist ~"
LOB DER SCHWESTER
Wisława
Szymborska
Übertragen
aus dem Polnischen von Karl Dedecius
Meine
Schwester schreibt keine Gedichte
und wird wohl nicht plötzlich
Gedichte zu schreiben beginnen.
Sie hat’s von der Mutter, die
keine Gedichte schrieb,
und auch vom Vater, der keine Gedichte
schrieb.
Unter dem Dach meiner Schwester fühl ich mich
sicher:
Der Mann meiner Schwester schriebe um nichts in der Welt
Gedichte.
Und klingt es auch wie ein Gedicht von A.
Mazedonski,
niemand von meinen Verwandten schreibt Gedichte.
In den Schubladen meiner Schwester gibt’s keine alten
Gedichte,
in ihrer Handtasche keine frisch geschriebnen
Gedichte.
Und lädt meine Schwester ein zum Mittag,
dann nicht
um Gedichte vorzulesen, das weiß ich.
Ihre Suppen sind vorzüglich
ohne Hintergedanken,
und der Kaffee tropft niemals auf
Manuskripte.
In vielen Familien schreibt niemand Gedichte,
und wenn – dann
kaum eine Person allein.
Manchmal fließt Poesie mit
Geschlechterkaskaden daher,
was in Gefühlen gegenseitig missliche
Wirbel verursacht.
Meine Schwester pflegt eine nicht üble mündliche Prosa,
die
Urlaubskarten sind ihre ganze Schriftstellerei,
darin sie jedes
Jahr dasselbe verspricht:
sie werde nach ihrer Rückkehr
alles,
alles,
alles erzählen.
Renate Hensel "Eines meiner Lieblingsgedichte ist ~"
BLATT IM WIND
Mascha
Kaleko
Lass mich das Pochen deines Herzens spüren,
dass
ich nicht höre, wie das meine schlägt.
Tu vor mir auf all die
geheimen Türen,
da sich ein Riegel vor die meinen legt.
Ich
kann es, Liebster, nicht im Wort bekennen,
und meine Tränen
bleiben ungeweint,
die Macht, die uns von Anbeginn vereint,
wird
uns am letzten aller Tage trennen.
All meinen Schmerz ertränke
ich in Küssen.
All mein Geheimnis trag ich wie ein Kind.
Ich
bin ein Blatt, zu früh vom Baum gerissen.
Ob alle Liebenden so
einsam sind?
Foto: Renate Hensel Ich bin ein Blatt, zu früh vom Baum gerissen |