Wolfgang Wache "Eines meiner Lieblingsgedichte ist ~"
MULACKSTRASSE
Richard Leising
Der
Kohlenträger hat bis in den Hals gelbes Haar, das
vom Kohlendreck
schwarz war.
Der Kohlenträger ist mit einem Tafelwagen gekommen,
er hat niemand andern zum Ziehen mitgenommen.
Er hat ein
Lederkoller umgebunden, das ist an Rücken
und Schultern
abgeschunden.
Er hat in Holzkiepen, halb so hoch wie er und
doppelt
so breit, Briketts geschichtet, sechzig ungefähr.
Der
Kohlenträger hat auf dem Wagen etwa dreißig
Kiepen gestellt und
so aneinander gelehnt, dass keine
herunterfällt.
Der Wagen
mit den Kiepen mit den Kohlen fährt vor
das Haus; der
Kohlenträger klingelt. Ein Mann
sieht zum Fenster raus.
Dieser
Mann ist der Kohlenbesteller, er kommt herunter
und zeigt dem
Kohlenträger den Keller.
Jetzt hat der Kohlenträger eine Kiepe
gedreht, dass er
mit seinem Rücken genau vor ihr steht.
Er
hakt in die Kiepe ein Lederband, legt es über die
Schulter und
wickelt es um die Hand.
Der Kohlenträger beginnt sein Kreuz gegen
die Kiepe
zu drücken, dann bückt er sich, dann steigt sie auf
seinen Rücken.
Dreißigmal schiebt die Kiepe den Kohlenträger
ins Haus; der
Keller hat elf Stufen hinein und elf heraus.
Der
Kohlenträger kommt wieder ans Tageslicht, er hat
eine schwarze
Maske vor dem Gesicht.
Er setzt die Kiepen auf den Wagen, steht
noch zwei
Minuten hier und trinkt eine Flasche Bier.
aus:
„Poesiealbum 97 / Richard Leising“
Renate Hensel "Eines meiner Lieblingsgedichte ist ~"
Original in wissenschaftlicher
Edition
Dû bist mîn,
ich bin dîn.
des solt dû gewis sîn.
dû bist beslozzen
in
mînem herzen,
verlorn ist das sluzzelîn:
dû muost ouch immêr
darinne sîn.
Neuhochdeutsche
Übersetzung
(nach
Thomas Bein)
Du bist mein, ich bin dein.
Dessen sollst du
gewiss sein.
Du bist eingeschlossen
in meinem Herzen,
verloren
ist das Schlüsselchen:
Du musst auch für immer darin bleiben.
Bernd Lunghard "Eines meiner Lieblingsgedichte ist ~"
MODE
Eva Strittmatter
Zum Beispiel widerstrebt es
mir,
Geld in Kleidung zu verschwenden,
(Als wären wir vor
allem hier,
Um einander zu blenden.)
Ich kenne viele, die ihre
Zeit
In äußere Schönheit umsetzen.
Sie sind zu jeder
Entbehrung bereit,
Um die Mode nicht zu verletzen.
Und jedes
Jahr und jedes Jahr
Wollen sie sich verwandeln.
Perücke
oder eignes Haar?
Man schreibt ihnen vor, wie sie handeln.
Und
ehe sie nicht die Absätze tragen,
Die man in diesem Jahr tragen
muss,
Können sie von sich nichts Sicheres sagen.
Sie leben
ferngelenkt. Auf Beschluss.
So lesen sie auch, und so denken
sie,
So schränken sie ihre Freiheit ein.
Sie lassen sich
sagen, was und wie,
Und wagen nicht, sie selber zu sein.