Samstag, 3. April 2021

Lieblingsgedichte ~ Richard Leising, unbekannter Autor um 1180, Eva Strittmatter

Wolfgang Wache "Eines meiner Lieblingsgedichte ist ~"

MULACKSTRASSE
Richard Leising

Der Kohlenträger hat bis in den Hals gelbes Haar, das
vom Kohlendreck schwarz war.
Der Kohlenträger ist mit einem Tafelwagen gekommen,
er hat niemand andern zum Ziehen mitgenommen.
Er hat ein Lederkoller umgebunden, das ist an Rücken
und Schultern abgeschunden.
Er hat in Holzkiepen, halb so hoch wie er und doppelt
so breit, Briketts geschichtet, sechzig ungefähr.
Der Kohlenträger hat auf dem Wagen etwa dreißig
Kiepen gestellt und so aneinander gelehnt, dass keine
herunterfällt.
Der Wagen mit den Kiepen mit den Kohlen fährt vor
das Haus; der Kohlenträger klingelt. Ein Mann
sieht zum Fenster raus.
Dieser Mann ist der Kohlenbesteller, er kommt herunter
und zeigt dem Kohlenträger den Keller.
Jetzt hat der Kohlenträger eine Kiepe gedreht, dass er
mit seinem Rücken genau vor ihr steht.
Er hakt in die Kiepe ein Lederband, legt es über die
Schulter und wickelt es um die Hand.
Der Kohlenträger beginnt sein Kreuz gegen die Kiepe
zu drücken, dann bückt er sich, dann steigt sie auf
seinen Rücken.
Dreißigmal schiebt die Kiepe den Kohlenträger ins Haus; der
Keller hat elf Stufen hinein und elf heraus.
Der Kohlenträger kommt wieder ans Tageslicht, er hat
eine schwarze Maske vor dem Gesicht.
Er setzt die Kiepen auf den Wagen, steht noch zwei
Minuten hier und trinkt eine Flasche Bier.

aus: „Poesiealbum 97 / Richard Leising“




Renate Hensel "Eines meiner Lieblingsgedichte ist ~"

Original in wissenschaftlicher Edition

Dû bist mîn, ich bin dîn.
des solt dû gewis sîn.
dû bist beslozzen
in mînem herzen,
verlorn ist das sluzzelîn:
dû muost ouch immêr darinne sîn.


Neuhochdeutsche Übersetzung
(nach Thomas Bein)

Du bist mein, ich bin dein.
Dessen sollst du gewiss sein.
Du bist eingeschlossen
in meinem Herzen,
verloren ist das Schlüsselchen:
Du musst auch für immer darin bleiben.


Bernd Lunghard "Eines meiner Lieblingsgedichte ist ~"

MODE
Eva Strittmatter

Zum Beispiel widerstrebt es mir,
Geld in Kleidung zu verschwenden,
(Als wären wir vor allem hier,
Um einander zu blenden.)
Ich kenne viele, die ihre Zeit
In äußere Schönheit umsetzen.
Sie sind zu jeder Entbehrung bereit,
Um die Mode nicht zu verletzen.
Und jedes Jahr und jedes Jahr
Wollen sie sich verwandeln.
Perücke oder eignes Haar?
Man schreibt ihnen vor, wie sie handeln.
Und ehe sie nicht die Absät
ze tragen,
Die man in diesem Jahr tragen muss,
Können sie von sich nichts Sicheres sagen.
Sie leben ferngelenkt. Auf Beschluss.
So lesen sie auch, und so denken sie,
So schränken sie ihre Freiheit ein.
Sie lassen sich sagen, was und wie,
Und wagen nicht, sie selber zu sein.