Ich höre ein Gedicht. Ich höre ein Gedicht im Radio. Ich höre ein Gedicht aus dem Laptoplautsprecher. Ich höre ein Gedicht. Ich höre ein Gedicht, das nicht von der Dichterin gelesen wird. Ich höre ein Gedicht einer Dichterin und Nonne, mit der Stimme einer Schauspielerin. Im Internetlexikon steht nur „Schauspielerin“. Im Lexikon steht für die Dichterin „Schweizer Benediktinerin und Schriftstellerin“. Ich denke an einen Autor von dem es heißt „deutscher Benediktinerpater, Betriebswirt, Führungskräftetrainer, Autor spiritueller Bücher und Referent“. Ich überlege, was wohl in dem Internetlexikon hinter meinem Namen stehen würde. Ich schreite durch den Kreuzgang meines inneren Klausurbereichs. Unzugänglich für Uneingeweihte. Aus dem Kräutergarten weht der Duft von Minze und Melisse herüber, ich höre Geschirrklappern aus dem Refektorium und ein Psalmgebet aus der Kapelle. Die Verbundenheit mit diesem Ort tut mir gut. Dieser wandelbare und doch stets gleiche Ort in meinem Inneren. Der eigene Körper ist der einzige, der uns immer verbunden ist. Der einzige konstante Mensch in unserem Leben sind wir selbst. Ich denke an all die Menschen, die nicht mehr in meinem Leben sind – teils aus eigener Entscheidung, teils weil die Existenz in diesem Körper beendet ist. Ein Verlust ist es immer. Ein Verlust, der mich oft ratlos und fragenvoll zurück lässt. Ein Abschied, nach dem ich mich neu orientieren muss, einen neuen Ansprech-Partner finden muss, denn wir Menschen sind Wesen, die die Gemeinschaft brauchen. Den anderen Menschen. So fremd, skurril, unfertig, nervend, neugierig, schamhaft, ängstlich, vertrauensvoll wir einander auch begegnen. Ich suche nach Gemeinsamkeiten, nach dem Verbindenden mit dem anderen, in seinen Blicken, seinen Gesten, seinen Worten, seinen Taten. Vielleicht spreche ich den Psalm mit: „In deine Hände lege ich voller Vertrauen meinen Geist.“ (Psalm 31,6) Vielleicht spreche ich das Gedicht: „Ich wollte Schnee sein, mitten im August, / Und langsam von den Rändern her vergehn, / Langsam mich selbst vergessen, ich hätt Lust, / Dabei mir selber singend zuzusehn.“ (Silja Walter [Sr. Maria Hedwig] „Tänzerin“) Vielleicht singe ich ein Lied: „Kleine Meise, kleine Meise, sag wo kommst du denn her“ Und irgendjemand hört es. Hört es und fühlt sich angesprochen von diesen Worten. Wir nähern uns in den Worten anderer und wechseln erst bei unseren Namen zu unserer eigenen Sprache.
Yana Arlt
Silja Walter
TÄNZERIN
Der Tanz ist aus. Mein Herz
ist süß wie Nüsse,
Und was ich denke, blüht mir aus der
Haut.
Wenn ich jetzt sacht mir in die Knöchel bisse,
Sie
röchen süßer als der Sud Melisse,
Der rot und klingend in der
Kachel braut.
Sprich nicht von Tanz und nicht von Mond und
Baum
Und ja nicht von der Seele, sprich jetzt nicht.
Mein Kleid
hat einen riesenbreiten Saum,
Damit bedeck ich Füße und
Gesicht
Und alles, was in diesem Abend kauert,
Aus jedem Flur
herankriecht und mich mißt
Mit grauem Blick, sich duckt und mich
belauert,
Mich gellend anfällt und mein Antlitz küßt.
Sprich
nicht von Tanz und nicht von Stern und Traum
Und ja nicht von der
Seele, laß uns schweigen.
Mein Kleid hat einen riesenbreiten
Saum,
Drin ruht verwahrt der Dinge Sinn und Reigen.
Ich
wollte Schnee sein, mitten im August,
Und langsam von den Rändern
her vergehn,
Langsam mich selbst vergessen, ich hätt Lust,
Dabei
mir selber singend zuzusehn.
Aus: Silja Walter: Gedichte (Die kleinen Bücher der Arche). Zürich: Arche, 1950, S. 33
Textquelle: lyrikzeitung