Montag, 24. Oktober 2022

Inspirieren lassen

Es gab Zeiten, da kannten alle lyrikinteressierten Menschen der DDR und auch Menschen jenseits der Republikgrenzen den Namen Uwe Greßmann. Der junge Poet erkrankte an Tbc, es folgten jahrelange Behandlungen in Krankenhäusern und Heilstätten. Mit 36 Jahren starb Uwe Greßmann, bevor sein zweiter Lyrikband „Das Sonnenauto“ veröffentlicht wurde.
„Wer schreibt, der bleibt“, heißt es immer wieder und immer noch. Im Jahr 2020 erschienen 64.000 neue Titel auf dem Buchmarkt. Lyrik und Dramatik machten im selben Jahr 1,4% der Gesamtumsätze im Buchhandel aus. Was treibt jemanden dazu Gedichte zu schreiben? Und kommt man zwangsläufig mit Erich Arndts „Deutsche Verslehre“ oder vergleichbaren Regelwerken in Berührung? Definitiv gibt es mehr Menschen, die Gedichte schreiben, als Menschen, die Lyrikbände kaufen und Poesie lesen. Wie oft höre ich: „Gedichte sind nicht so mein Ding.“ Aber wie können sie zu jemandes „Ding“ werden? Vielleicht indem man nicht fordert, dass man ein Gedicht analysieren und nach vorgegebenen Regeln interpretieren können muss, wenn man es liest? Ein Gedicht ist auch kein Kunstwerk auf samtener Unterlage in einer Vitrine – man denke nur an die Verse von Francois Villon oder Charles Bukowski.
Ich halte es da eher mit Paul Auster, der in der Reportage über die Malerin Joan Mitchell sagt:
> Mitchell sagt, sie versuche die Emotionen einer Verszeile auf die Leinwand zu übertragen. Ihr Leben lang malt sie Bilder in Anlehnung an Texte befreundeter Schriftsteller und Dichter: wie Frank O'Hara, Samuel Beckett und Jacques Dupin.
„Eine Gedichtzeile ist so vieles in einem – sie ist konkret und metaphorisch zugleich. Sie sendet Bedeutungswellen aus, weil sie vieldeutig ist. Eine Gedichtzeile ist nie eindeutig – wenn es gute Lyrik ist. Dieses Schwingen ruft beim Leser Resonanz hervor, eine Reaktion von Körper und Geist. Ich bin davon überzeugt, dass wahre Poesie durch den Rhythmus lebt. Und genau das macht Joan auch in ihren Bildern. In der Kunst geht’s um Rhythmus und den haben ihre Bilder. Gute Lyrik hat Rhythmus.“
< Paul Auster in
„Joan Mitchell – Poetin des Abstrakten“ (arte)
Und wie steht es nun um Uwe Greßmann?
Im kommenden Jahr wäre er 90 Jahre alt geworden – es ist Zeit, wieder einmal einen Gedichtband von ihm in die Hand zu nehmen...


Uwe Greßmann
geb. 1. Mai 1933
gest. 30. Oktober 1969

Weltseele

Leis o leis
Singe mit tausend Stimmen
Da du irgendwo zwischen Zähnen und Ästen wohnst

Ja tief in des Herzens Schneisen selbst
Wandelt ein Jüngling dahin
Und hält des Traumes
Schöne
Arme
Umschlungen
Fragt nun die Erscheinung:

Siehst du am Himmel meine große Seele
Ach die ferne
Scheint mit Sonnenaugen
Schweigsam so heiter zu strahlen
O die Stille strömt

Die Grüne meines Herzens
Tief so tief in Baumes Schlaf
O Mitternacht gib Acht o Mensch


aus dem Band „Sagenhafte Geschöpfe“ Gedichte, aus dem Nachlaß herausgegeben von Holger J. Schubert / Mitteldeutscher Verlag Halle-Leipzig 1983