Freitag, 12. Juni 2020

ALEXANDER KIENSCH ~ Keine Klicks, keine Kultur? Über den Wert der Kunst im kapitalistischen System

Eine Gruppe junger Leute findet sich mehr oder weniger spontan zusammen, um eine Videoreihe zu beginnen: Jeden Abend soll eine Novelle aus Giovanni Boccaccios „Decamerone“ vorgestellt werden. Die Minilesungen werden über einen Youtube-Kanal veröffentlicht und auf Facebook beworben. Die Gruppe wird erstaunlich schnell aktiv, innerhalb kürzester Zeit werden ein Terminplan erstellt, die Vorbereitungen abgeschlossen und das Projekt, als Beitrag zur grassierenden Online-Unterhaltungsmaschinerie während der härtesten Home-Office- und Quarantänephase in Zeiten von Covid-19, gestartet.





 
 







Ziemlich genau so hat es sich Ende März in Stuttgart abgespielt, beteiligt waren hauptsächlich kreativ Schreibende, die sich regelmäßig bei einem „Schreibenden-Stammtisch“ im Literaturhaus treffen. Die Begeisterung war hoch, die vorgeschlagene Vorgehensweise wurde umstandslos akzeptiert, nach nur wenigen Diskussionen, allesamt konstruktiv und sachlich, konnte es losgehen. Der Ausblick, Kunst betreiben zu können, und sei es „nur“ in Form von Vorlesen nicht-eigener Texte, schien die Beteiligten keine Sekunde darüber nachdenken zu lassen, warum sie so etwas tun sollten, warum sie ihre Freizeit mit der Aufnahme von Videos, dem Speichern, Verschicken und Bewerben von Lese-Perfomances verbringen sollten, während doch nur wenige Tastendrücker entfernt die unendlichen Welten von Netflix, Prime und co. warten.

Genau das ist es, was für mich persönlich eine wahre Künstlernatur ausmacht. Wenn ich im Laufe meines Lebens gefragt wurde, warum ich schreibe, fiel es mir jedes Mal schwer, eine Antwort darauf zu finden. Warum atme ich? Warum schlafe ich? Über so etwas denke ich nicht nach, es gehört ganz einfach zu meiner innersten Natur, ohne die es mir bedeutend schlechter gehen würde.

Was nicht heißt, dass man nicht darüber nachdenken kann. Oder manchmal sollte. Reflexion, besonders Selbstreflexion, gehört zum innersten Kern jeder wahren Kunst. Das hat sich auch wieder bei dieser „Decamerone“-Aktion gezeigt, als das unrühmliche Ende näher rückte: Weil die Youtube-Videos nur noch einstellige Klickzahlen erzielten, wurde das Projekt quasi einstimmig eingestellt – nach Wortmeldung der meisten Beteiligten lohnte sich der Aufwand nicht mehr, auch wenn allesamt betonten, es habe ihnen wirklich Spaß gemacht.


 





 







Und an der Stelle sollte man doch – und zwar nicht nur als Künstler oder Kunstliebender – hellhörig werden. Was für einer Logik wurde da gefolgt? Immer vorausgesetzt, die Worte waren allesamt ehrlich und nicht nur bloße Höflichkeitskonvention – dann wurde im Grunde von mehreren Personen folgendes gesagt: Sie hören jetzt mit etwas auf, was ihnen wirklich Spaß macht, weil sie damit nicht erfolgreich genug sind.

Was das für eine Logik ist? Ganz klar, das ist die uns allen seit mindestens 30 Jahren gnadenlos und ununterbrochen eingeimpfte Logik eines kapitalistischen Wettbewerbs- und Erfolgsdenkens. Alles was wir tun, womit wir unsere Zeit verbringen und wofür wir uns interessieren, soll in irgendeiner Weise mit dem Erreichen eines Ziels, mit „Erfolg“ zu tun haben. Das wird uns multimedial so penetrant und durchaus subtil eingeredet, dass die allermeisten von uns wohl gar nicht mehr bemerken, dass sie in einem solchen Denken gefangen sind.

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aus:
Alexander Kiensch 
Keine Klicks, keine Kultur?

Über den Wert der Kunst im kapitalistischen System

vollständiger Beitrag im NLZettel Juni

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