Liebe Anna,
ich weiß nicht viel über dich, Anna, ich stand nur eines Tages auf einem alten Friedhof vor deinem Grab. Ich las deinen Namen, dein Geburts- und dein Sterbedatum und las deinen Geburtsnamen. Links von deinem Grabstein steht ein Grabstein mit Innschriften zweier Männer. Es ist ja nur eine Vermutung von mir, dass Christian Noack dein Mann war – aber wie passt der zweite Name in diese Lebensgeschichte, der einen vollkommen anderen Familiennamen trägt. Ich lese das Datum 19. Dezember 1875 und bemerke, dass du in diesem Jahr 2025 deinen 150. Geburtstag hast. Selten werden Menschen so alt. Du bist im Alter von 81 Jahren verstorben, nur wenige Wochen vor deinem 82. Geburtstag. Du hast in Reppist gewohnt, wurdest in Sorno getauft – beide Orte sind dem Braunkohlenbergbau zum Opfer gefallen. Die Devastierung von Reppist im Jahr 1986 hast du nicht mehr miterlebt. Welche Spuren hat der Wandel der Heimat in dir hinterlassen? Sorno lag an der Sornoschen Elster, einem Flusszweig der Schwarzen Elster, bereits in der Jungsteinzeit und der Bronzezeit soll dieses Fleckchen Erde besiedelt gewesen sein. Das Mühlenhandwerk und die Landwirtschaft prägten das Leben. In deinem Geburtsjahr sind 403 Einwohner verzeichnet, die zum großen Teil wohl noch sorbischsprachig waren. Die Sorben verfügen über einen reichen Schatz an Traditionen aber sie waren im Lauf der Geschichte immer wieder der Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzt. Warst du eine Sorbin? Hast du im Alltag, mit deiner Familie, deinen Freunden, deinen Klassenkameraden sorbisch gesprochen? Wenn ich vor euren Gräbern stehe, erwacht in mir der Schriftsteller... ein Schreibender hat nur seine eigenen Lebenserfahrungen, die er in Gedichte und Geschichten verarbeitet. Viele sehr junge AutorInnen verfassen deshalb oft Texte, die eher einer reichen Phantasie- und Wunschwelt entsprechen, sie widmen sich großen Menschheitsthemen ohne persönliche Note und Tiefe. In Schreibwerkstätten mit Kindern und Jugendlichen erleben wir das. Diese Entwicklungsphase eines Schreibenden ist dringend notwendig und wir würden jederzeit einen Menschen, der mit dem literarischen Schreiben beginnt – auch als Erwachsener -, ermutigen. Aber ein Erstlingswerk ist selten gute Literatur, deshalb sagen wir: „Es ist ein Anfang, bleib dran!“ Mit all den Erfahrungen, Begegnungen, Enttäuschungen, Verletzungen, Erfolgen meines Lebens beginne ich eine Geschichte zu erspinnen... ich brauche mehr Informationen! Über dich, mir lieb gewordene Anna, über Christian, über August, über das Dorf Sorno und das Leben dort, Ende des 19. Jahrhunderts. Du hast beide Weltkriege miterlebt – warst du hier in der Lausitz oder zog es dich als junge Frau auch zu „einer Anstellung“ nach Berlin? Die Dörflerinnen aus der Lausitz waren gefragte Haus- und Kindermädchen in den wohlhabenden Berliner Bürgerhäusern. Oder hast du in jungen Jahren geheiratet? Hattest du Kinder? Gibt es heute noch Nachkommen – hier in Senftenberg oder irgendwo in der Welt? Wie hast du ausgesehen als Schulkind, als Braut, als erfahrene Frau? Hattest du Geschwister? Hattet ihr eine innige Verbindung? Hast du einen Beruf erlernt und ausgeführt? Wie hast du die Spaltung Deutschlands, die Gründung der DDR erlebt, die fortan dein Heimatland war? Christian starb noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Fiel dir ein Leben ohne ihn schwer? Mir schwirrt der Kopf... Du wirst mich begleiten, Anna, aus einem nicht ganz genau zu benennenden Grund. Warum rührt mich der Anblick eurer Grabsteine? Warum zieht es mich immer wieder hierher? Übrigens, am 4. Dezember 1875, 15 Tage vor deiner Geburt, kam der Dichter Rainer Maria Rilke zur Welt. Er starb 10 Tage nach deinem 51. Geburtstag – am 29. Dezember 1926. Hast du je ein Gedicht von ihm gelesen oder gehört? Anna?
Ich grüße dich aus der Gartenstadt Marga
die du vielleicht auch kanntest, entstand sie doch als Wohnsiedlung im Lausitzer Braunkohlenrevier für die Bergleute – hier das Leerziehen und Abbaggern alter Dörfer – dort das Neuentstehen von Siedlungen... was für bewegte Zeiten das waren.
Yana




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