Ich vermisse dich! Ich vermisse deine
Stimme, deine Märchenlesestimme. Ich vermisse deine großen rauhen
Hände. Ich vermisse dein Akkordeon- und dein Mundharmonikaspiel. Ich
vermisse den Geruch des Kellers mit den keimenden Kartoffeln in der
Schütte und den Regalen voller Fahrradeinzelteilen. Ich vermisse den
Öl- und Schmierfettgeruch in der Gartenlaube und den
Maiglöckchenduft und den Weintraubengeschmack rundherum. Ich kann
mich an so vieles gar nicht erinnern, das ich jetzt vermissen könnte.
Es sind Gerüche, Empfindungen, Geräusche, Klänge... aus denen sich
Bilder zusammensetzen. Ich schaue auf die Fotos. Der junge Mann mit
dem Wanderstock auf dem Felsen in der Sächsischen Schweiz posierend.
Der Vater, der mit seiner etwa achtjährigen Tochter im Strandsand
der Ostsee spielt. Der Großvater ~ Gibt es irgendwo ein Foto mit dir
und mir? An Tagen wie heute ist das Vermissen ganz frisch gewaschen,
es flattert auf der Leine des Wäscheplatzes vorm Haus. Ich bringe
dir Blumen. Gefallen sie dir? Es ist ein Ritterstern. Ich finde, die
Blüten und ihr Name passen zu dir. Ich vermisse dich! Wenn man
jemand vermisst, ist man dann zwangsläufig auch traurig? Kann man
jemanden auch fröhlich vermissen? Ich möchte gern an Tagen, wie
diesen heute, mit jemandem über dich reden. Ich möchte ihn fragen:
Kanntest du ihn? Was habt ihr gemeinsam erlebt? Was mochtest du an
ihm? Kannst du dich daran erinnern, dass er mit seiner Enkelin Eis
essen ging oder ihr das Fahrradfahren beibrachte oder sie auf der
Schaukel im Garten unter dem Apfelbaum anstieß? Hat er dir je aus
der Patsche geholfen? Ich trage den Ring mit deinen Initialen – an
Tagen wie diesen heute. Hast du mir die Geschichte des Rings erzählt
oder war es jemand anderes, der sich vielleicht auch nur irgendetwas
zusammengereimt hat. Wissen ist ein Geweb, das zuweilen große Löcher
hat, weite Maschen, mit ausgefransten Rändern und ausgeblichenen
Farben. Was weiß ich über dich... und wie viel nicht. Das spielt
für das Vermissen keine Rolle. Ich vermisse dich!
Yana Arlt
Mein Akkordeon
Ich
habe ein Akkordeon, das steht in einer Ecke,
es wartet drauf von
Zeit zu Zeit, dass ich es da entdecke.
Wenn ich einmal alleine
bin und niemand kann mich stören,
kommt mir zu spielen in den
Sinn, hinein in mich zu hören.
Ich zieh es mit Bedacht
hervor, berühre sanft die Tasten,
und freu mich, wenn ein Ton
erklingt aus diesem alten Kasten.
Die Melodien, die falln mir
ein aus früh'ren andren Tagen.
Doch Wörter müssen gar nicht
sein für alte Rätselfragen.
Und was erscheint, erklingt in
Moll. Es sind Erinnerungssplitter.
Es kommt wohl, weil es so sein
soll:
nicht süß und auch nicht bitter.
Inge Hoppe-Grabinger
Textquelle: e-stories